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Verfahrenseinstellung nach §31a Betäubungsmittelgesetz
Am 09.03.1994 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine Bestrafung für den Besitz geringer Mengen von Cannabis zum Eigengebrauch ohne Fremdgefährdung gegen das Übermassverbot des Grundgesetzes verstösst. Es erklärte dabei das Betäubungsmittelgesetz (BtMG), das den Besitz von Cannabis mit fünf Jahren Haft bedroht, nicht für verfassungswidrig, weil §31a BtMG eine straflose Einstellung von Ermittlungsverfahren ermöglicht, ohne dass es zu einem Gerichtsverfahren kommen muss. Das Gericht wies den Gesetzgeber an, dafür Sorge zu tragen, dass es zu einer im wesentlichen einheitlichen Einstellungspraxis in den Ländern kommt.
Auf Anfragen von Abgeordneten der FDP und der PDS hat die Bundesregierung erklärt, dass dies nach ihren Erkenntnissen bereits der Fall sei. In einer Pressemitteilung vom 21.12.2001 zur Drogenpolitik in Deutschland und der Schweiz behauptete z.B. Frau Marion Caspers-Merk, Drogenbeauftragte der Bundesregierung, 10 g Cannabis gelte in allen Bundesländern als "geringe Menge", deren Besitz nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1994 im Regelfall straffrei sei:
Ich habe dazu erklärt, dass in Deutschland bereits klare rechtliche Regelungen bestehen: (...) § 31 a des Betäubungsmittelgesetzes ermöglicht Straffreiheit bei Besitz geringer Mengen von Betäubungsmitteln zum Eigenkonsum. In allen Bundesländern wird als geringe Menge Cannabis 10 Gramm angesehen."
Die Bundesregierung berief sie sich dabei wiederholt auf die Studie »Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten«:
http://www.bundestag.de/aktuell/hib/2001/2001_116/02.html
Gesundheit/Antwort
Berlin: (hib/VOM) In der Anwendungspraxis nach dem
Betäubungsmittelgesetz hat die "geringe Menge" Cannabis für den
Eigenkonsum, die zur Einstellung der strafrechtlichen Verfolgung führt,
im Durchschnitt in mehr als 90 Prozent der Fälle höchstens zehn Gramm
betragen. In über 80 Prozent der Fälle seien es höchstens sechs Gramm
gewesen. Auf diese Auskunft auf eine schriftliche Anfrage einer
F.D.P.-Abgeordneten im November 1999 verweist die Bundesregierung in
ihrer Antwort (14/5897) auf eine Kleine Anfrage der PDS-Fraktion
(14/5770). Die Fraktion hatte sich nach der "unterschiedlichen
Handhabung" der Strafbefreiung und der Nichtverfolgung von "geringen
Mengen" von lediglich zum Eigenverbrauch bestimmten Betäubungsmitteln in
den einzelnen Bundesländern erkundigt.
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Bei der erwähnten Studie handelt es sich um folgendes Buch:
Susanne Aulinger: "Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten" (Bundesministerium für Gesundheit, 1997), ISBN: 3-7890-5116-0, DM 78,00/EUR 39,88
Liest man dieses genauer, dann zeigt sich, dass keineswegs von einer "im wesentlichen einheitlichen Einstellungspraxis" gesprochen werden kann, wie vom Bundesverfassungsgericht vorgeschrieben. Diese Studie untersuchte primär jene Verfahren, die eingestellt worden waren, ohne auf die Zahl der trotz kleiner Mengen nicht eingestellten Verfahren in den entsprechenden Bundesländern einzugehen (in denen es in der Regel zu Gerichtsverfahren kam).
Auf Seite 171 nennt die Studie die Zahl der Tatverdächtigen zu allgemeinen Verstössen nach §29 BtMG sowie die jeweiligen Einstellungszahlen §31a Abs.1, ohne aber die Werte zueinander direkt in Relation zu setzen. Wir haben das einmal nachgeholt. Die Ergebnisse sprechen eine deutliche Sprache:
Einstellungen nach §31a Abs.1 als Anteil der Tatverdächtigen nach allgemeinen Verstössen nach §29 BtMG
1995: |
§29 BtMG |
§31a Abs.1 |
Einstellungsrate |
Schleswig-Holstein |
1863 |
1716 |
92,1 % |
Bremen |
1690 |
1363 |
80,7 % |
Hamburg |
4609 |
2987 |
64,8 % |
Nordrhein-Westfalen |
21433 |
10406 |
48,6 % |
Hessen |
7241 |
3429 |
47,4 % |
Niedersachsen |
7462 |
3323 |
44,5 % |
Saarland |
1173 |
472 |
40,2 % |
Berlin |
4572 |
1705 |
37,3 % |
Rheinland-Pfalz |
4391 |
1594 |
36,3 % |
Baden-Würtemberg |
13164 |
3846 |
29,2 % |
Bayern |
14465 |
2752 |
19,0 % |
Brandenburg |
720 |
86 |
11,9 % |
Thüringen (*) |
301 |
205 |
--- (*) |
Sachsen |
790 |
80 |
10,1 % |
Sachsen-Anhalt |
551 |
55 |
10,0 % |
(*) Anmerkung: Die aus den Zahlen von AULINGER an sich errechnete Einstellungsrate von 68.1 Prozent für Thüringen im Jahre 1995 beruht wahrscheinlich auf einem Datenfehler. Die in der Studie genannte Zahl von 301 Tatverdächtigen in Thüringen im Jahr 1995 ist fragwürdig, weil sie einer Halbierung zum Vorjahr entspricht, während Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg in etwa eine Verdoppelung meldeten. Ausserdem machen allgemeine Verstösse normalerweise etwa zwei Drittel aller BtMG-Verstösse aus. Bei 703 BtMG-Anzeigen im Jahre 1995 wären statt 301 ca. 500 allgemeine Verstösse zu erwarten. 1994 wurden in Thüringen nur 11 Prozent der Fälle straflos eingestellt, konsistent mit den Einstellungsraten von 10-12 Prozent in allen anderen neuen Bundesländern im Jahre 1995. Eine Versechsfachung der Rate in einem Jahr wurde in keinem anderen Bundesland beobachtet.
Im Gegensatz zur Darstellung der Bundesregierung lassen die vorliegenden Zahlen keine im wesentlichen einheitliche Anwendungspraxis des §31a erkennen. Es liegt am Deutschen Bundestag, diesen Mangel abzustellen und für eine bundesweit einheitliche Strafbefreiung der Konsumenten von Cannabis zu sorgen.
Zur Untermauerung dieser Forderung suchen wir Betroffene, die wegen bis zu 10 Gramm Cannabis gerichtlich verurteilt wurden und bereit sind, Informationen über ihren Fall zur Verfügung zu stellen.
Wichtige Artikel zum Thema:
CSU betont ungleiche Rechtspraxis im Ländervergleich
[CLN#49, 15.02.2002]
Verurteilt wegen unter 10 g Cannabis?
[CLN#48, 08.02.2002]
Expertenanhörung: Noch keine Rechtsgleichheit
[CLN#47, 01.02.2002]
Haschisch-Sündern wird eingeheizt
[Oberpfalznetz, 25.01.2002]
Caspers-Merk: 10 Gramm bundesweit "geringe Menge"
[CLN#45, 28.12.2001]
Bayern: 3250 DM Strafe für 0,5 Gramm Cannabis
[CLN#33, 26.10.2001]
Verein für Drogenpolitik: Rechtsgleichheit herstellen!
[VfD, 30.07.2001]
Das Original der Antwort der Bundesregierung auf die oben erwähnte Anfrage von Ulla Jelpke (PDS) ist hier zu finden:
http://dip.bundestag.de/btd/14/058/1405897.pdf
Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Ulla Jelpke und der Fraktion der PDS
Drucksache 14/5770
Unterschiedliche Festlegungen in den Bundesländern über die nicht der
Strafverfolgung unterliegende »geringe Menge« von Drogen zum Eigenkonsum
Die Bundesregierung verweist auf ihre Antworten vom 9. November 1999 und
vom 30. März 2001 zu den schriftlichen Fragen Nr. 35 und 36 (Bundestags-
drucksache 14/2099) sowie Nr. 26 und 27 (Bundestagsdrucksache 14/5731).
Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass durch das Dritte
BtMG-Änderungsgesetz vom 28. März 2000 (BGBl. I S. 302) der in der
Fragestellung zitierte § 31a Abs. 1 Satz 1 BtMG nicht geändert wurde.
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Auch in der Drucksache 14/5731
(
http://dip.bundestag.de/btd/14/057/1405731.pdf)
wird verwiesen auf 14/2099:
26. Abgeordnete
Sabine
Leutheusser-
Schnarrenberger
(F.D.P.)
Beabsichtigt die Bundesregierung, zur Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Übermaßverbot im Betäubungsmittelgesetz einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der klarstellt, was eine geringe Menge weicher Drogen zum Eigenkonsum ist mit der Folge, dass von Strafverfolgung abzusehen ist?
27. Abgeordnete
Sabine
Leutheusser-
Schnarrenberger
(F.D.P.)
Welche Maßnahmen hat die Bundesregierung hierzu bisher unternommen, um eine einheitliche Praxis der Strafverfolgungsbehörden
sicherzustellen?
Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Gudrun Schaich-Walch
vom 27. März 2001
Die Bundesregierung verweist auf ihre Antwort zu Frage 35 vom 9. November 1999 (Bundestagsdrucksache 14/2099, S. 21/22). Der Bundesregierung liegen keine von der damaligen Einschätzung abweichenden Erkenntnisse vor.
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In der erwähnten Antwort nun schliesslich findet sich folgendes:
http://dip.bundestag.de/btd/14/020/1402099.pdf
35. Abgeordnete
Sabine
Leutheusser-
Schnarrenberger
(F.D.P.)
Was unternimmt die Bundesregierung, um auf der Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine einheitliche Praxis der Strafverfolgungsbehörden in der Bundesrepublik Deutschland beim Vorgehen gegen Menschen, die eine geringe Menge weicher Drogen zum Eigenkonsum besitzen, sicherzustellen?
Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Christa Nickels
vom 9. November 1999
Als Reaktion auf die sog. Cannabis-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 9. März 1994 regte die Bundesregierung seinerzeit
bei den Landesjustizministerien die Festlegung von einheitlichen Kriterien für die Einstellungspraxis nach § 31a BtMG, insbesondere die
Bestimmung der »geringen Menge« für den Eigenkonsum von Cannabis im Sinne dieser Vorschrift, an. Es kam dann zwar nicht zu einer
ländereinheitlichen Festlegung, da die Justizverwaltungen nach und
nach in Einzelerlassen bzw. Richtlinien unterschiedliche Kriterien
und Mengen für die Anwendung des § 31a BtMG festgelegt haben.
Eine im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit im März
1997 vorgelegte rechtstatsächliche Untersuchung der Kriminologischen Zentralstelle zum Thema »Die Rechtsgleichheit und Rechtswirklichkeit bei der Strafverfolgung von Drogenkonsumenten« ergab
jedoch, dass beim Umgang mit sog. weichen Drogen, insbesondere
Haschisch und Marihuana, hinsichtlich der Mengen, bei denen die
Vorschrift des § 31a BtMG regelmäßig zur Anwendung kommt, bundesweit ein hohes Maß an Übereinstimmung in der strafrechtlichen
Praxis vorliege, so dass von einer im Wesentlichen einheitlichen
Rechtsprechung, die das Bundesverfassungsgericht gefordert hatte,
gesprochen werden könne.
Die von der Drogenbeauftragten der Bundesregierung geleitete Interministerielle Arbeitsgruppe Drogen hat im Juli des Jahres nach Auswertung dieser Untersuchung ebenfalls einen aktuellen Handlungsbedarf verneint. Sollten jedoch neuere Erkenntnisse diese Praxis infrage
stellen, so wird die Bundesregierung erforderlichenfalls eine Nachuntersuchung über die Einstellungspraxis veranlassen. Sollte sich aus dieser oder aus sonstigen Erkenntnissen ergeben, dass die erforderliche
Bundeseinheitlichkeit nicht mehr gewährleistet ist, so wird die Bundesregierung mit den Ländern Kontakt aufnehmen und die notwendigen Maßnahmen prüfen, um eine verfassungskonforme Rechtsanwendung sicher- bzw. wiederherzustellen.
36. Abgeordnete
Sabine
Leutheusser-
Schnarrenberger
(F.D.P.)
Wie definiert die Bundesregierung die geringe
Menge?
Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin
Christa Nickels
vom 9. November 1999
In der Anwendungspraxis, insbesondere des § 31a BtMG, beträgt die
geringe Menge von Cannabis für den Eigenkonsum, die zur Einstellung geführt hat, nach der vorstehend genannten Untersuchung im
Mittel in über 80 Prozent der Fälle höchstens 6 Gramm und in mehr
als 90 Prozent der Fälle höchstens 10 Gramm.
37. Abgeordnete
Sabine
Leutheusser-
Schnarrenberger
(F.D.P.)
Beabsichtigt die Bundesregierung, ihre Drogenpolitik um die Entkriminalisierung weicher
Drogen zu ergänzen, und wie ist der Stand der
vom Staatssekretär im Bundesministerium für
Gesundheit, Erwin Anton Jordan, in Karlsruhe angekündigten Prüfung?
Antwort der Parlamentarischen Staatssekretärin Christa Nickels vom 9. November 1999
Als Vertragspartei der internationalen Suchtstoffübereinkommen
bleibt die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet, auch den Besitz
von weichen Drogen zum Eigenkonsum grundsätzlich als Straftat einzustufen.
Die Bundesregierung setzt sich jedoch dafür ein, Cannabisprodukte
realistisch und differenziert zu bewerten und die rechtliche Einstufung
jeweils entsprechend zu überprüfen. So ist seit dem 30. März 1996
der landwirtschaftliche Anbau von Nutzhanf (Cannabis bis zu
0,3 Prozent THC-Gehalt) unter bestimmten Voraussetzungen zugelassen worden. Aufgrund von klinischen Prüfungen sind die Cannabis-Wirkstoffe Nabilon und Dronabinol als verschreibungsfähige Arzneimittel eingestuft worden. Ein weiterer klinischer Versuch für die Verwendung von Cannabisextrakt als Arzneimittel ist im vorigen Jahr genehmigt worden und hat inzwischen begonnen. Auch diese Arzneimittel auf der Basis von Cannabis wird die Bundesregierung zulassen,
wenn der Versuch den Nachweis der gesetzlichen Voraussetzungen erbringt.
Im Zusammenhang mit der Strafverfolgung von Cannabiskonsumenten wird diskutiert, ob diese bei Jugendlichen unter Umständen nicht
zu einer Aufwertung und Verfestigung des Probierverhaltens führen
könne. Deshalb bemüht sich die Bundesregierung um glaubwürdige
und realistische Präventionskonzepte, insbesondere zugunsten von jugendlichen Gelegenheitskonsumenten.
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