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Vorlagebeschluß des Landgerichts Lübeck
Der nachfolgende Text enthält den Vorlagebeschluss Art. 100 GG
aus dem Verfahren 2 Ns (Kl 167/90), und ist als
Diskussionsbeitrag zur momentan stattfindenden Diskussion über die
Legalisierung von Haschisch / Marihuana zu sehen.
Er wurde mir, mit freudlicher Genehmigung zur Veröffentlichung, in
gedruckter Form, vom Landgericht Lübeck zur verfügung gestellt.
Das elektronische erfassen des Schriftstückes, mittels Scanners
und OCR-Software, übernahm kostenlos eine Computerfirma auf der
C-Bit (deren Nahmen ich hier Aufgrund des Werbeverbotes in einigen
Netzen nicht angeben kann (kann aber bei mir erfragt werden)).
Für korrekturlesen, Formatieren und anschließende konvertierung
in reinen ASCI Text, sowie Splitting in 4 Teile zeichne ich mich
persöhnlich verantwortlich!
Eine weitere Verbreitung dieses Textes in elektronischer Form darf,
ausser Auschnittweise zum bezugnehmen in eigenen Kommentaren, nur
mit diesem vollstaendigen Originalvorspann erfolgen! Bei
verbreitung auf Papier entfaellt diese Beschraenkung, es muß
jedoch in jedem falle auf das Aktenzeichen:
Jz.
- 713 Js 16817/90 StA Lübeck -
--------------------------------
- 2 Ns (Kl. 167/90) -
verwiesen werden !
Bei Anfragen bezüglich des Inhalts bitte an das Landgericht Lübeck
wenden, Telefon: 04 51 / 3 71-0 , Telefax 04 51 / 3 71 15 19 !
MfGüNuD
Thomas
Thomas Wieckhorst / Kiefernweg 12 / 3042 Munster/Breloh 1
t.wieckhorst@heather.hanse.de = via UUCP
T.WIECKHORST@HEATHER.ZER = ZERBERUS-NETZ
05192/18848 = Telefon (21.00-03.00 Uhr MEZ)
-1-
Jz.
- 713 Js 16817/90 StA Lübeck -
--------------------------------
- 2 Ns (Kl. 167/90) -
1. Das Verfahren wird ausgesetzt.
2. Die Sache wird dem Bundesverfassungsgericht
zur Entscheidung über die Frage vorgelegt. ob §§ 29
Absatz 1 Nr. 1 (hier Handlungsalternative: abgeben)
i.V.m. 1 Absatz 1 i.V.m. Anlage I (hier: Cannabisharz
(Haschisch)) Betäubungsmittelgesetz vom 28. Juli 1981
(BGBl. I S. 681: ber. S. 1187). zuletzt geändert durch
das Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 vom 27. Januar
1987 (BGBl. I S. 475) mit Art. 2 Absatz 1 i.V.m. Art.
1 Absatz 1; Art. 2 Absatz 2 S. 1 und Art. 3 Absatz 1
(Gleichbehandlungsgrundsatz) Grundgesetz vereinbar
ist.
-2-
G l i e d e r u n g :
---------------------
A. Zum Sachverhalt S. 5
I. Verfahrensgeschichte S. 5
II. Festgestellter Sachverhalt S. 5
B. Zur rechtlichen Würdigung S. 9
I. Verstoß gegen Art. 3 Abs.1 GG S. 10
-----------------------------
1.) Zielsetzung des Betäubungsmittel-
gesetzes S. 12
2.) Ergebnis der Beweisaufnahme zur
Gefährlichkeit von Alkohol und
Cannabisprodukten S. 15
a) Die Sachverständigen S. 16
b) Die konkreten Feststellungen zur
Gefährlichkeit von Alkohol und
von Cannabisprodukten S. 17
(1) Wirkungsweisen des Alkohols S. 19
(a) Körperliche und psychische
Auswirkungen S. 19
(b) Gesellschaftliche Auswirkungen S. 25
(2) Wirkungsweisen der Cannabis-
produkte S. 27
(a) Allgemeine Wirkungen S. 27
(b) Körperliche und psychische
Auswirkungen S. 31
(c) Gesellschaftliche Auswirkungen S. 36
-3-
c) Zusammenfassung S. 43
(1) Entscheidung des Schweizerischen
Bundesgerichtes zur Gefährlichkeit
von Cannabisprodukten S. 43
(2) Gefährlichkeit von Cannabisproduk-
ten im Verhältnis zu sonstigen
Rauschmitteln S. 43
(3) Konsequenzen bei exzessiven Ge-
brauch von Cannabisprodukten S. 44
3.) Verfassungsrechtliche Konsequenzen
aus den Feststellungen zu 2.) S. 45
a) Anwendung von Art. 3 GG bei Straf-
vorschriften S. 45
b) Nichtannahmebeschluß des Bundesver-
fassungsgerichts vom 17.Dez. 1969 S. 46
c) "Keine Gleichbehandlung im Unrecht" S. 48
II. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz
---------------------------------------
1.) "Recht auf Rausch" als zentraler Sektor
menschlicher Selbstbestimmung S. 49
2.) "Recht auf Rausch" und Selbst-
schädigung S. 50
3.) "Recht auf Rausch" und Schranken-
trias S. 51
a) Das Verhältnismäßigkeitsgebot als
Teil der Rechtsstaatlichkeit S. 52
b) Das Verhältnismäßigkeitsgebot bei
Strafnormen S. 53
-4-
c) Konkrete Anwendung des Verhältnis-
mäßigkeitsgebotes S. 54
(1) Fehlprognose des Gesetzgebers S. 55
(2) Ungeeignetheit S. 57
(3) Erforderlichkeit S. 67
(4) Verhältnismäßigkeit im engeren
Sinne S. 69
(a) Schaden-Nutzen-Analyse S. 69
(b) Mangelnde Differenzierung des
Gesetzgebers bei den sogenannten
"weichen" und "harten" Drogen S. 76
(c) Mangelnde Differenzierung des
Gesetzgebers bei den einzelnen
strafbaren Handlungsalternativen
des Betäubungsmittelgesetzes S. 78
III. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG S. 83
-------------------------------------
IV. Internationale Abkommen S. 85
-----------------------
V. Zinsammenfassung/Verfahrenskonforme
-----------------------------------
Auslegung S. 87
---------
-5-
G r ü n d e :
-------------
A. Zum Sachverhalt
===================
I.
Die Angeklagte ist mit einem Urteil des Amtsgerichts in
Lübeck, Strafrichters, vom 01. Oktober 1990 wegen vor-
sätzlichen Vorstoßes gegen § 29 Absatz 1 Nr. 1 Betäu-
bungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von zwei
Monaten verurteilt worden. Außerdem ist das asservierte
Haschisch eingezogen worden.
Die Angeklagte hat dieses Urteil mit ihrer Berufung in
zulässiger Weise angegriffen und ihre Berufung wirksam
mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf das Strafmaß
beschränkt. Die Kammer hat das Verfahren gemäß Artikel
100 Abs. 1 Grundgesetz ausgesetzt und nach Maßgabe des
Beschlußtenors zu Ziffer 2 dem Bundesverfassungsgericht
zur Entscheidung vorgelegt.
II .
Durch die wirksame Beschränkung des Rechtsmittels auf das
Strafmaß sind der Schuldspruch sowie die ihn tragenden
tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts in Rechts-
kraft erwachsen. Die Kammer ist hieran gebunden.
-6-
1. Zum Sachverhalt
---------------
Zum Sachverhalt hat das Amtsgericht folgende Fest-
stellungen getroffen:
Am 17. April 1990 besuchte die Angeklagte ihren Ehe-
mann in der Justizvollzugsanstalt in Lübeck. Ihr Ehe-
mann saß dort in Untersuchungshaft wegen des Vorwurfs
eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Bei
der Begrüßung umarmte die Angeklagte ihren Ehemann. In
diesem Augenblick übergab sie ihm ein Briefchen, das
Haschisch enthielt. Ihr Ehemann steckte dies in die
Hosentasche seines Jogging-Anzuges. Während der Dauer
des bewachten Besuches steckte er das Briefchen mit
dem Haschisch in den rechten Strumpf.
Im Gegensatz zum Amtsgericht hat die Kammer festge-
stellt, daß das übergebene Haschisch nicht 2 Gramm,
- wie vom Amtsgericht festgestellt - sondern lediglich
1,12 Gramm wog. Da das Gewicht ein für die Schuld-
zumessung relevanter Faktor ist, war die Kammer nicht
an die entsprechenden -unzutreffenden- Feststellungen
des Amtsgerichts gebunden,
2. Zur Person
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Zur Person der Angeklagten hat die Kammer folgende
Feststellungen getroffen:
Die Angeklagte ist am 17. Juli 1963 in Telgte,
Wahrendorf geboren. Sie hat noch einen jüngeren Bru-
der. Ihre Eltern leben in Dortmund. Die Angeklagte hat
nach ihrem Schulabschluß (Mittlere Reife) in einem
Reisebüro eine Lehre als Reisebürokauffrau angefangen.
Sie hat die Lehre jedoch nicht abgeschlossen. 1982 hat
sie ihren späteren Ehemann kennengelernt
und diesen am 21. Juni 1984 geheiratet. Dieser über-
redete sie, ihre Lehre abzubrechen und ihren Lebens-
unteihalt als Prostituierte zu verdienen. Dabei war
-7-
ihr Ehemann als Zuhälter tätig. Im Jahre 1982 zogen
die Angeklagte und Herr nach Lübeck. wo die An-
geklagte seitdem in der Clemensstraße dem Gewerbe der
Prostituion nachgeht. 1987 hatte die Angeklagte erst-
mals Kontakt mit Rauschmitteln. Ihr Mann war zu diesem
Zeitpunkt nach längerer Haftzeit entlassen worden und
veranlaßte die Angeklagte zur Einnahme von Rauschmit-
teln. Die Angeklagte, nahm sporadisch Haschisch und
Amphetamin. Später nahm sie auch hin und wieder
Kokain. In der Beziehung der Angeklagten zu ihrem Ehe-
mann gab es erhebliche Probleme, die die Angeklagte
zunehmend dazu veranlaßte, häufiger Rauschmittel zu
nehmen, um die Probleme zu verdrängen. Dabei verwandte
die Angeklagte Haschisch als Schlafmittelersatz.
Nachdem ihr Ehemann eine Beziehung zu einer anderen
Frau aufgenommen hatte, nahm der Drogenkonsum der
Angeklagten drastisch zu. Sie war viel allein und
wollte sich scheiden lassen. Eine Fehlgeburt brachte
die Angeklagte in zusätzliche seelische Nöte. Mit
Schlaftabletten, Haschisch und der Einnahme von Kokain
versuchte sie des "inneren Chaos" Herr zu werden.
Unter dem dominierenden Einfluß ihres Ehemannes
handelte die Angeklagte in der Zeit vom 06. Juli 1989
bis zum 06. September 1989 erlaubnislos mit den
Betäubungsmitteln Haschisch, Amphetamin und Kokain.
Anfang September 1989 wurde sie zusammen mit ihrem
Ehemann und einer dritten Person bei dem Versuch,
Rauschmittel von den Niederlanden nach Deutschland
illegal und erlaubnislos einzuführen, von der
niederländischen Polizei in Kerkrade gestellt und
gefaßt. Die Angeklagte verbrachte knapp ein halbes
Jahr in Untersuchungshaft und wurde am 21. Februar
1990 vom Amtsgericht Lübeck - Schöffengericht - wegen
versuchter erlaubnisloser Einfuhr von Betäubungsmit-
teln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vor-
-8-
sätzlichem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in
nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe in Höhe
von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Voll-
streckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
Zur Strafzumessung und zur Frage der Bewährung hat das
Amtsgericht in seinem Urteil vom 21. Februar 1990
folgende Erwägungen angestellt:
Schuldmindernd fand Beachtung, daß die Angeklagte,
obgleich gemeinschaftlich handelnd, so doch in einer
gegenüber ihrem Ehemann etwas untergeordneten Rolle
tätig war. Ferner hat das Gericht berücksichtigt, daß
sie die Drogen auch eigenkonsumierte um hierdurch
Probleme, die für sie in dem Prostituiertengewerbe be-
standen, zu überdecken. Die hierdurch entstandene,
wenn auch verminderte Abhängigkeit von Drogen hat das
Gericht ebenfalls schuldmindernd berücksichtigt. Deut-
lich unrechtserhöhend fand die deutliche Menge der Be-
täubungsmittel, mit denen Handel getrieben wurde und
die eingeführt werden sollten, Beachtung. Angesichts
dieser Umstände hat das Gericht eine Freiheitsstrafe
von einem Jahr und sechs Monaten als angemessen
erachtet und gegen die Angeklagte verhängt.
Das Gericht hat die Freiheitsstrafe gemäß § 56 Absatz
2 StGB zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagte hat in
dieser Sache bereits eine Untersuchungshaft von fast
sechs Monaten erlebt. Dies hat sie zur Überzeugung des
Gerichts in dem Sinne erkennbar beeindruckt, daß sie
sich künftig straffrei verhalten wird. In der Haupt-
verhandlung machte sie deutlich, daß sie das von ihr
begangene Unrecht bereut. Ihr war eine günstige
Sozialprognose zu stellen, ferner gebot die Verteidi-
gung der Rechtsordnung nicht die Vollstreckung der
Strafe."
-9-
Die Angeklagte nimmt keine Drogen mehr. Sie hat sich
hierbei keiner Therapie unterzogen. Von ihrem Ehemann
hat sie sich am 14. August 1991 scheiden lassen. Sie
hat eine neue Beziehung zu einem anderen Mann aufge-
baut, der nicht aus dem Zuhältermilieu stammt. Er ist
als Blumenhändler tätig. Die Angeklagte hat sich mit
diesem Mann verlobt und will demnächst heiraten. Sie
ist immer noch als Prostituierte tätig, weil sie ihre
Schulden abtragen will.
Neben der Verurteilung durch das Amtsgericht Lübeck
vom 21. Februar 1990 ist die Angeklagte weiterhin
durch Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 19. Februar
1987 wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort vorbe-
straft. Das Amtsgericht hat in seiner Entscheidung vom
19. Februar 1987 die Angeklagte zu einer Geldstrafe
von 35 Tagessätzen zu je 45,00 DM verurteilt.
B. Zur rechtlichen Würdigung
=============================
Aufgrund des festgestellten Sachverhalts hat sich die
Angeklagte gemäß §§ 29 Absatz 1 Nr.1 i.V.m. 1 Abs. 1
i.V.m. Anlage I (hier: Cannabisharz (Haschisch))
Betäubungsmittelgesetz in der Handlungsalternative des
Abgebens strafbar gemacht. Sie hat vorsätzlich
Betäubungsmittel ohne Erlaubnis abgegeben.
An einer Bestrafung der Angeklagten sieht sich die Kammer
jedoch gehindert, weil nach ihrer Überzeugung die hier
zur Anwendung kommenden Vorschriften des
Betäubungsmittelgesetzes nach Maßgabe des Beschlußtenors
zu Ziffer 2 verfassungswidrig sind und eine verfassungs-
konforme Auslegung dieser Vorschriften des Betäubungsmit-
telgesetzes nicht in Betracht kommt (vgl. dazu unten V.).
-10-
Demnach kommt es für die Bestrafung der Angeklagten
darauf an, ob die vorliegend zur Anwendung gekommenen
Vorschriften des Betäubungsmitteigesetzes mit den im
Beschlußtenor zu Ziffer 2.) aufgeführten Artikel des
Grundgesetzes vereinbar sind: Verstoßen §§ 29 Absatz 1
Nr. 1 i.V.m. 1 Absatz 1 i.V.m. Anlage I (hier:
Cannabisharz (Haschisch)) Betäubungsmittelgesetz in der
Handlungsalternative des Abgebens gegen die im
Beschlußtenor genannten Vorschriften des Grundgesetzes,
dann darf die Kammer die Angeklagte nicht bestrafen. Sie
ist freizusprechen, Sind die vorgenannten Vorschriften
des Betäubungsmittelgesetzes hingegen mit dem Grundgesetz
vereinbar, dann ist die Angeklagte zu bestrafen.
Die Kammer legt daher mit folgenden Erwägungen gem. Art.
100 Absatz 1 Grundgesetz die Sache dem Bundesver-
fassungsgericht zur Entscheidung vor:
I. Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz
--------------------------------------------
(Gleichheitsgrundsatz)
----------------------
Die Strafbarkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtmG
hängt in allen Handlungsalternativen davon ab. ob
die Handlungen sich auf Stoffe und Zubereitungen
beziehen, die in den Anlagen I bis III zu § 1 Abs.
1 BtmG aufgeführt sind. In diesen Anlagen I bis
III sind weder Alkohol noch Nikotin aufgeführt.
Hingegen sind in der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtmG
Cannabis (Marihuana) und Cannabisharz (Haschisch)
aufgeführt.
-11-
Die Kammer ist der Auffassung, daß das Aufführen
der Cannabisprodukte und das Nichtaufführen von
Alkohol und Nikotin in den Anlagen I bis III zu §
1 Absatz 1 BtmG gegen den Gleichheitsgrundsatz des
Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verstößt.
Nach einhelliger Meinung in der verfassungsrecht-
lichen Literatur und Rechtsprechung (vergleiche
Leibholz-Rinck-Hesselberger, BVerfG-Rechtspre-
chungskommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl., Bd.I,
Artikel 3, Anmerkung 1 und 27 mit entsprechenden
Hinweisen auf die Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts) stellt Artikel 3 Absatz
1 Grundgesetz ein den Gesetzgeber bindendes
Willkürverbot dar. Er verbietet dem Gesetzgeber
wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und
wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu
behandeln. Diese von Artikel 3 Grundgesetz
geforderte Rechtsgleichheit führt nicht zu einer
schematischen Gleichsetzung. Sie bedeutet nicht
Identität, sondern nur verhältnismäßige
Gleichheit. Der Gleichheitssatz ist erst dann
verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich
aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie
sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche
Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden
läßt, wenn also die Bestimmung als willkürlich
bezeichnet werden muß (BVerfGE 1, 52; 3, 135; 9,
349; 13, 227/228; 42, 73; 59,97), wobei dem
Gesetzgeber bei der Regelung der einzelnen Sach-
-12-
verhalte eine weitgehende Gestaltungsfreiheit und
ein weiter Ermessensspielraum zusteht. Dieser
endet erst dort, wo die Gleich- oder
Ungleichbehandlung der geregelten Sachverhalte
nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken
orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo
also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche
Gleichbehandlung oder Differenzierung fehlt
(BVerfGE 59, 97; 3, 136).
Nach Auffasung der Kammer gibt es keinen einleuch-
tenden Grund dafür, Cannabisprodukte in der Anlage
I zu § 1 Absatz 1 BtmG aufzuführen und die Produk-
te Alkohol und Nikotin nicht in die Anlagen zu § 1
Absatz 1 BtmG aufzunehmen.
1.) Durch das Betäubungsmittelgesetz soll als Rechts-
gut die Volksgesundheit geschützt werden. 1911
wurde das bis dahin geltende Opiumgesetz umfassend
novelliert, Es trat als "Gesetz über den Verkehr
mit Betäubungsmitteln (BtmG) vom 22. Dezember 1971
(BGBl I Seite 2092)" am 25. Dezember 1971 in
Kraft. Im allgemeinen Teil der amtlichen
Begründung des von der Bundesregierung
eingebrachten Gesetzentwurfes (BT-Drs. 665/70)
sind die Motive für die umfangreiche Novellierung
festgehalten, Es heißt dort unter anderem:
-13-
äls eine der Maßnahmen der Bundesregierung, die
in einem umfassenden Aktionsprograpm zur
Bekämpfung der Rauschgiftsucht vorgesehen sind,
dient das Gesetz dem Ziel, der Rauschgiftwelle in
der Bundesrepublik Deutschland Einhalt zu gebieten
und damit große Gefahren von dem Einzelnen und der
Allgemeinheit abzuwenden. Es geht darum, den
einzelnen Menschen, insbesondere den jungen Men-
schen vor schweren und nicht selten irreparablen
Schäden an der Gesundheit und damit von der Zer-
störung seiner Persönlichkeit, seiner Freiheit und
seiner Existenz zu bewahren. Es geht darum, die
Familie vor der Erschütterung zu schützen, die ihr
durch ein der Rauschgiftsucht verfallenes Mitglied
droht. Es geht darum, der Allgemeinheit den hohen
Preis zu ersparen, den ihr die Opfer einer sich
ungehemmt ausbreitenden Rauschgiftwelle ab-
verlangen würden. Es geht schließlich darum, die
Funktionsfähigkeit der Gesellschaft nicht gefähr-
den zu lassen.....
Ein besonderes Kennzeichen der Rauschgiftwelle ist
die erhebliche Zunahme des Verbrauchs von indi-
schem Hanf (Cannabis sativa) und des darin
enthaltenen Harzes (Haschisch), Es handelt sich
dabei um ein Halluzinogen, das nach der in der
medizinischen Wissenschaft überwiegenden Meinung
bei Dauergebrauch zu Bewußtseinsveränderungen und
zu psychischer Abhängigkeit führen kann....
Bei der Droge treten offenbar keine Entziehungs-
syndrome auf, und es besteht nur eine geringe
Tendenz, die Dosis zu erhöhen. Mit großer Wahr-
scheinlichkeit ist davon auszugehen, daß die Droge
eine Schrittmacherfunktion ausübt. Der Umsteige-
-14-
effekt auf härtere Drogen zeigt sich besonders bei
jungen Menschen. Praktisch vollziehen sie mit ihr
den Einstieg in die Welt der Rauschgifte. Die
exakten biochemischen Vorgänge, die sich im
menschlichen Körper beim Genuß dieser Droge voll-
ziehen sind noch weithin unbekannt...."
Der Gesetzgeber ging also davon aus, daß mit dem
Gesetz der Verkehr und die Kontrolle von Stoffen
und Zubereitungen erreicht werden sollte, von
denen der Gesetzgeber annahm, daß sie sowohl für
den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft gra-
vierende Gefahren hervorrufen könnten. Dabei war
er der Auffassung, daß das Gefahrenpotential so
groß, sei, daß im Einzelfall die Vernichtung der
Existenz einzelner Menschen zu befürchten sei und
gesamtgesellschaftlich die Funktionsfähigkeit des
Staates gefährdet, werden könnte. Dabei hat der
Gesetzgeber nicht zwischen sogenannten harten
Drogen (z.B. Kokain, Heroin) und sogenannten
weichen Drogen (Cannabisprodukte) unterschieden,
vielmehr ist der Gesetzgeber davon ausgegangen,
daß die Cannabisprodukte "mit großer Wahr-
scheinlichkeit" eine Schrittmacherfunktion für die
anderen Drogen hätten.
Bei den nachfolgenden Novellierungen des Betäu-
bungsmittelgesetzes hat der Gesetzgeber diese
Zielvorstellung im Kern nicht modifiziert. Er hat
allerdings mit dem nunmehr vorliegenden
Betäubungsmittelgesetz vom 28. Juli 1981 eine
Akzentverschiebung vorgenommen, Danach ist neben
der Strafverschärfung für schwere Rauschgiftkrimi-
nalität die sozialtherapeutische Rehabilitation
für abhängige Straftäter stärker in den Vorder-
grund gerückt. In § 1 des Betäubungsmittelgesetzes
-15-
von 1981 hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich
des Betäubungsmittelgesetzes, auf die in den
Anlagen I bis III genannten Stoffe und
Zubereitungen begrenzt. Betäubungsmittel im Sinne
des Gesetzes sind nur die in den Anlagen I bis III
abschließend genannten Stoffe und Zubereitungen
(System der Positivliste). Die in diesen Anlagen
aufgeführten Stoffe und Zubereitungen sind Teil
des Gesetzes. Sie können jedoch durch Rechts-
verordnung geändert und ergänzt werden. Auf die
Frage, ob hierin ein verfassungswidriger Verstoß
gegen das Gewaltenteilungsprinzip und gegen
Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz vorliegt
braucht vorliegend nicht weiter eingegangen zu
werden (vgl. Körner, Kommentar zum Betäubungs-
mittelgesetz, 3. Auflage, § 1 Randn. 5 mit
weiteren Nachweisen). In der Anlage I zu § 1
Absatz 1 Betäubungsmittelgesetz sind auch Cannabis
(Marihuana) und Cannabisharz (Haschisch) aufge-
führt.
2.) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die
Kammer der Überzeugung, daß das Aufführen von
Cannabisprodukten in dieser Liste und das Nicht-
aufführen von Alkohol und Nikotin gegen Artikel 3
Grundgesetz verstößt.
Alkohol und Nikotin sind sowohl für den Einzelnen
als auch gesamtgesellschaftlich evident gefähr-
licher als Cannabisprodukte. Aus Gründen der Ver-
einfachung beziehen sich die nachfolgenden Aus-
führungen nur auf das Verhältnis des Genusses von
Alkohol und Cannabisprodukten. Sie gelten aber
auch entsprechend für das Verhältnis von
Cannabisprodukten zum Nikotin.
-16-
a) Diese Auffassung der Kammer beruht auf den
überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen
deren Meinungen sich die Kammer angeschlossen
hat. Die Kammer hat die, Sachverständigen Herrn
Dr. Barchewitz und Herrn Prof. Dr. Dominiak
gehört.
Herr Dr. Barchewitz ist Facharzt für
Psychiatrie und seit 15 Jahren im Therapiebe-
reich tätig. Zwei Drittel seiner fachlichen
Tätigkeit hat er in Suchtkliniken zugebracht.
Er hat auch fünf Jahre im Bereich der Kinder-
und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Seit 1986 ist
er Leiter der Fachklinik für Suchtkrankheiten
(Holstein-Klinik in Lübeck). Dort befinden sich
überwiegend alkohol- und medikamentenabhängige
aber auch anderweit drogensüchtige Personen.
Herr Dr. Barchewitz verfügt auch über
erhebliche Erfahrungen mit Drogenabhängigen.
Diese gründen sich auf seine Erfahrungen
während seiner gesamten beruflichen Tätigkeit.
Der Sachverständige Prof. Dr. Dominiak ist
Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie
sowie für klinische Pharmakologie. Er ist
Direktor des Instituts für Pharmakologie der
Medizinischen Universität zu Lübeck und hat
sich insbesondere in jüngster Zeit intensiv mit
Wirkungen von Rauschgiften auseinandergesetzt
und beschäftigt. Er hat im Dezember 1991 auf
einem Fachkongreß von Rechtsmedizinern in
Lübeck ein umfassendes Referat zu den toxischen
und pharmakologischen Wirkungsweisen von Drogen
(auch der Cannabisprodukte) gehalten und dabei
die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse
auf diesem Gebiet analysiert und aufgearbeitet.
-17-
b) Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen
und unter Berücksichtigung vielfältiger, allge-
mein zugänglicher Literatur, die mit den Sach-
verständigen und den Prozeßbeteiligten im
Termin erörtert worden ist, ist die Kammer
zusammenfassend zur Frage der Gefährlichkeit
von Alkohol und Cannabisprodukten zu folgenden
Feststellungen gekommen:
- Die körperlichen Auswirkungen übermäßigen
Alkoholkonsums erreichen fast alle Organe
und Organsysteme und können diese schwer
schädigen oder sogar zerstören, während
Cannabisprodukte nur geringfügige körper-
liche Wirkungen herbeiführen.
- Nach dem Absetzen von Alkohol treten bei
Alkoholabhängigen schwere körperliche Ent-
zugserscheinungen auf, während
bei Cannabisprodukten praktisch keine kör-
perlichen Entzugserscheinungen beobachtet
werden.
- übermäßiger Alkoholkonsum kann schwere
psychische Schäden bewirken, während
bei Cannabisprodukten keine gravierenden
psychischen Störungen zu erwarten sind und
allenfalls mit einer geringfügigen psychi-
schen Abhängigkeit gerechnet werden muß.
-18-
- In der Bundesrepublik gibt es eine Vielzahl
von Verbänden, speziellen Krankenhäusern und
speziellen Therapien, die sich mit Alkohol-
erkrankungen und Alkoholabhängigkeiten be-
schäftigen, während
es weder eine spezielle Therapie für Canna-
biskonsumenten noch spezielle Krankenhäuser
oder Verbände gibt, die sich um Cannabis-
konsumenten kümmern.
- In der Bundesrepublik einschließlich der
neuen Bundesländer wird die Anzahl der Alko-
holtoten auf 40.000 im Jahr geschätzt,
während
kein Fall (auch weltweit) bekannt ist. bei
dem der Tod einer Person auf übermäßigen
Konsum von Haschisch zurückzuführen ist. Es
gibt keine letale Dosis für Haschisch.
- Die wirtschaftlichen Folgekosten aufgrund
des Alkoholkonsums werden in der Bundesre-
publik auf jährlich 50 Milliarden DM ge-
schätzt, während
bei Cannabisprodukten entsprechende Zahlen
nicht existieren.
- Der Alkoholkonsum hat erhebliche Auswirkun-
gen auf den Arbeitsplatz (Arbeitsunfälle
Kündigungen, Krankheitsfälle, Einstellungen
von Suchtberatern), während
bei Cannabisprodukten entsprechende Beobach-
tungen und Schätzungen nicht existieren.
- Der Anteil von tödlichen Unfällen, die im
Zusammenhang mit Alkohol stehen, wird in der
Bundesrepublik auf 5O % geschätzt und die
Zahl der Verkehrsunfälle unter Alkoholein-
fluß mit Personenschäden auf gut 30.000 pro
Jahr, während
-19-
bei Cannabisprodukten auf keine entsprechen-
den Beobachtungen oder Schätzungen zurückge-
griffen werden kann.
- Nach der polizeilichen Kriminalstatistik des
Bundeskriminalamtes aus dem Jahre 1990 wur-
den in diesem Zeitraum mehr als 140.000 Tat-
verdächtige (knapp 10 % aller Tatverdächti-
gen) registriert, die nach polizeilichem
Erkenntnisstand bei der Tatausführung unter
Alkoholeinfluß standen. Im Bereich der Ge-
waltdelikte (z.B. Totschlag, Vergewaltigung,
Sexualmord) liegt der Anteil der Tatverdäch-
tigen unter Alkoholeinfluß über 36 %,
während
bei Cannabisprodukten entsprechende stati-
stische Erhebungen nicht durchgeführt wer-
den.
Im einzelnen ist hierzu folgendes auszuführen:
(1) Wirkungsweisen des Alkohols:
(a) Körperliche und psychische Auswirkungen
aa.)
Alkoholintoxikationen reichen von leichter Geh-
Störung, starker Gehstörung, Reflexlosigkeit bis
zur Bewußtlosigkeit und Kreislaufinsuffizienz,
bb.)
Leichte Alkoholräusche (0,5 - 1,5) sind gekenn-
zeichnet durch Herabsetzung der psychomotorischen
Leistungsfähigkeit, allgemeine Enthemmung, Beein-
trächtigung der Fähigkeit kritischer Selbstkon-
-20-
trolle; mittelgradige Räusche (1,5 - 2,5) durch
euphorische Glückstimmung oder aggressive Gereizt-
heit, Verminderung der Selbstkritik, Enthemmung,
Benommenheit, Psychomotorischer Unsicherheit, un-
reflektierter Bestrebung, triebhafte Bedürfnisse
zu befriedigen, Fehlen zielgerichteter Konstanz
und Bereitschaft zu primitiven, vorwiegend
explosiven Reaktionsweisen; schwere Rauschzustände
(über 2,5) durch Bewußtseinsstörungen und Verlust
realen Situationsbezuges, Desorientiertheit.
illusionäre situative Verkennung, motivlose Angst,
Gleichgewichtsstörungen hin bis zur Ataxie,
Dysarthrie und Schwindel, Schädel-Hirn-Trauma,
evtl. mit komplizierender intrakranieller Blutung.
cc.)
Die neuere Alkoholforschung läßt zehn psychopatho-
logische Syndrome erkennen, die einzeln oder in
verschiedenen Verbindungen auftreten (Störungen
des Bewußtseins und der Motorik, Störungen der
Orientierung, paranoid-halluzinatorisches Syndrom,
manisches, gereizt-aggressives, depressives
Syndrom, Angstsyndrom, Suizidalität, sexuelle
Erregung, amnestisches Syndrom).
dd.)
Das Alkoholentzugssyndrom wirkt sich
internistisch, vegetativ, neurologisch und
psychisch aus.
-21-
ee.)
Es gibt kaum ein Organsystem, an dem nicht
Syndrome oder Krankheiten gefunden wurden, die
nicht mit dem Alkoholismus ursächlich in
Verbindung zu bringen sind: z.B. Fettleber,
chronische Lungenerkrankung, Traumata, Bluthoch-
druck, Mangelernährung, Anämie, Gastritis,
Knochenbrüche, Hiatushernie, Leberzirrhose,
Magen-Darm-Geschwüre, chronischer Hirnschaden,
Fettsucht, Herzkrankheiten, gastrointestinale
Blutung, epileptische Anfälle, Diabetes,
Harnwegsinfekt.
ff .)
Die alkoholische Leberzirrhose ist eine relativ
häufige Erkrankung bei fortgeschrittenem Alkohol-
mißbrauch. 30-50 % aller Leberzirrhosen sind auf
den Mißbrauch zurückzuführen. Beschwerden sind
Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Depressivität. Es
kommt gelegentlich zu Hautveränderungen. Die Haut
ist pergamentpapierartig verdünnt und zeigt weiße
Flecken. Körperbehaarung und Schambehaarung läßt
nach. Potenz und Libido vermindern sich. Der
schwere, alkoholbedingte Leberschaden führt über
tiefere Bewußtseinstrübung zum Koma.
gg.)
Alkoholiker neigen zu mehr Infektionen der Luft-
wege.
-22-
hh.)
Die akute Alkoholintoxikation, besonders bei chro-
nischen Alkoholikern, löst typische Knochenmarks-
veränderungen aus und stört somit das Immunsystem.
ii.)
Alkohol wirkt auf die Muskeln in der Weise, daß
die Muskulatur schwillt, stark druckempfindlich
und krampfanfällig ist.
jj .)
Alkoholismus verändert das Gehirn morphologisch
und funktionell mit der weiteren Folge psychischer
Veränderungen. 3 - 5 % der Alkolholiker werden vom
sogenannten Wernicke-Korsakow-Syndrom befallen,
das durch folgende Störungen gekennzeichnet ist:
- Verlust des Altgedächtnisses, regelmäßig ver-
bunden mit der Unfähigkeit, sich neue Gedächt-
nisinhalte einzuprägen;
- verminderte Fähigkeit der Reproduktion von
Gedächtnisinhalten;
- eindeutige Verschlechterung der Auffassungs-
fähigkeit;
- Verminderung der Spontanität und Initiative;
- Störungen der Konzentrationsfähigkeit, der
räumlichen Organisation und der visuellen und
verbalen Abstraktion.
-23-
kk.)
20 - 40 % aller Alkoholiker leiden an Polyneuropa-
thie, die mit schmerzhaften Mißempfindungen,
Kribbelparästhesien und Taubheitsgefühl beginnt.
Danach kommt es zu ziehenden, brennenden und
stechenden Muskelschmerzen mit Krämpfen und
Muskelschwäche.
ll.)
Tremorerscheinungen sind bei Alkoholikern sehr
häufig. Sie sind anfangs reversibel, später nicht.
Das Leiden beginnt als feinschlägiger Tremor. Er
setzt an den Händen ein, der sich später ausbrei-
tet auf Zunge, Lippen, Augenlider, Kopf und Füße.
mm.)
Es gibt eine sogenannte Alkoholepilepsie bei
chronischen Alkholikern, die früher keine latente
Krampfbereitschaft aufgewiesen haben.
nn.)
Das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, ist
bei Männern mit einem hohen Alkoholkonsum um mehr
als das Vierfache höher als bei Abstinenten oder
bei geringem Konsum.
-24-
oo.)
Das sogenannte Alkoholdelir ist gekennzeichnet von
Desorientiertheit in örtlicher, zeitlicher und
situativer Hinsicht. Es bestehen Auffassungsstö-
rungen und illusionäre Verkennungen. Die Wahr-
nehmungsstörungen können zu einer gesteigerten
Suggestibilität und Konfabulationen führen. Die
Stimmung ist schwankend, gekennzeichnet durch
Angst, Reizbarkeit und durch eine gewisse
Euphorie. Typisch ist psychomotorische Unruhe mit
nestelnden Bewegungen und Bettflüchtigkeit.
pp.)
Beim Alkoholiker gibt es verstärkt Eifersuchts-
ideen und Eifersuchtswahn.
qq.)
Alkoholmißbrauch vor und während der Schwanger-
schaft kann schwere Schädigungen des Embryos ver-
ursachen. Für die Bundesrepublik wird eine jähr-
liche Rate der Alkoholembryopathie von 1800 ge-
schätzt. Deren wichtigsten Symptome sind Wachs-
tumsdefizit, Minderwuchs, Untergewicht, statomo-
torische und geistige Retardierung, Hyperaktivi-
tät, Muskelhypotonie, verkürzter Nasenrücken,
schmale Lippen, auch Mißbildungen.
-25-
(b) Gesellschaftliche Auswirkungen
aa.) Anzahl der Alkoholabhängigen
Die Anzahl der Alkoholabhängigen wird in der Bun-
desrepublik bei einer Geschlechterrelation von 1
(weiblich) zu 2 (männlich) auf 2,5 Millionen
geschätzt.
bb.) Wirtschaftliche Folgekosten
Die gesamtwirtschaftlichen Folgekosten des
Alkoholkonsums werden mit ca. 50 Mrd DM angegeben
(vgl. H.H. Kornhuber, in Sonderdruck "Deutsches
ärzteblatt" - ärztliche Mitteilungen, Heft 19
Seite 1347 bis 1362 vom 12. Mai 1988, im
Sonderdruck Seite 2).
cc.) Auswirkungen auf dem Arbeitsplatz
25 % aller Arbeitsunfälle in der Bundesrepublik
sind auf Alkohol zurückzuführen. Bei jeder 6. Kün-
digung geht es um Alkohol, Alkoholkranke sind 2,5
mal häufiger krank als andere Mitarbeiter. In über
800 Betrieben und Behörden werden schon Suchtbera-
ter eingesetzt (vgl. Jahrbuch der Sucht 1991,
Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren,
Seite 29).
-26-
dd.) Auswirkungen im Straßenverkehr
Unter Berücksichtigung von Dunkelzifferrelationen
wird der Anteil von tödlichen Unfällen, die im
Zusammenhang mit Alkohol stehen, auf 5O % ge-
schätzt (vgl. Stephan in Jahrbuch der Sucht 1991,
a.a.O., Seite 106, 107). Die Zahl der Verkehrs-
unfälle unter Alkoholeinfluß mit Personenschaden
wird auf gut 30.000 pro Jahr geschätzt.
ee.) Alkoholtoten
Die Zahl der Alkoholtoten wird in Deutschland
einschließlich der neuen Bundesländer mit ca.
40.000 jährlich angegeben.
ff.) Auswirkungen auf strafbare Handlungen
Nach der polizeilichen Kriminalstatistik des Bun-
deskriminalamtes aus dem Jahre 1990 wurden in
diesem Zeitraum 141.180 Tatverdächtige (= 9,8 %
aller Tatverdächtigen) registriert, die nach poli-
zeilichem Erkenntnisstand bei der Tatausführung
unter Alkoholeinfluß standen (vgl. Polizeiliche
Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes 1990,
Seite 85). Die Wirkung des Alkohols, die Gewalt-
bereitschaft zu erhöhen, wird besonders deutlich,
wenn der Anteil der Tatverdächtigen unter Alkohol-
einfluß in bestimmten von Gewalt geprägten
Deliktsgruppen untersucht wird. So betrug der An-
teil der Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluß bei
"Widerstand gegen die Staatsgewalt" 63,3 %. Bei
anderen Gewaltdelikten ergeben sich folgende
Zahlen:
-27-
- Totschlag: 47,4 %
- Körperverletzung mit tödlichem Ausgang: 41,4 %
- Vergewaltigung: 36,6 %
- Vergewaltigung überfallartig durch Gruppen: 50 %
- gefährliche und schwere Körperverletzung: 33,9 %
- Mord: 29,1 %
- Sexualmord: 46,7 %
- vorsätzliche Brandstiftung: 29,1 %
- sexuelle Nötigung: 28 %
(vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik, a.a.O.,
Seite 85).
Diesen katastrophalen und verheerenden Wirkungen
individueller und gesamtgesellschaftlicher Art
stehen folgende Wirkungen des Haschischkonsums
gegenüber:
(2) Wirkungsweisen der Cannabisprodukte:
(a) Allgemeine Wirkungen
Zu den allgemeinen Eigenschaften der Droge hat die
Kammer folgende Feststellungen getroffen:
Der Hauptwirkstoff der Cannabisprodukte ist das
THC, genauer das Tetrahydrocannabinol, Das THC
wird im natürlichen Cannabis durch eine Fülle
weiterer Wirk- und Duftstoffe ergänzt. Unter den
60 weiteren Cannabinoiden ragen hervor das
Cannabidiol (CBD), das beruhigend (sedativ) wirkt,
gelegentlich auch für Kopfschmerzen sorgen,
-28-
aber auch die THC-Wirkung verlängern soll, sowie
das Cannabinol (CBN), ein Abbauprodukt des THC
(vgl. Quensel in: "Drogen und Drogenpolitik", Ein
Handbuch, herausgegeben von Sebastian Scheerer u.
Irmgard Vogt, Campus 1989, Seite 380 m.w.N.).
Cannabis wird bei uns üblicherweise geraucht und
zwar meist zusammen mit Tabak als "Joint" oder
aber in der Pfeife. Neben der in der Forschung
häufigeren Injektion und dem Einatmen von Canna-
bisdampf, kann man Cannabis auch als "Tee" trinken
oder aufgelöst im Tee, als Gewürz im Essen, aber
auch als Gebäck zu sich nehmen (vgl. Quensel,
Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., Seite 380). Das
THC wird über die Schleimhäute aufgenommen und im
Körper zu "Metaboliten" verwandelt. Seine Wirkung
tritt beim Rauchen so rasch ein, daß die Dosishöhe
meist relativ einfach zu regulieren ist; beim
Essen und Trinken verzögert der Umweg über die
Leber die Wirkung mitunter über eine Stunde,
weswegen Anfänger aus Ungeduld leicht zu hohe
Dosen einnehmen, Mit einer THC-Dosis von 2-10 mg
beim Rauchen und etwa der dreifachen Menge beim
Essen und Trinken, das ist nach THC-Gehalt etwa
0,5 bis 1 Gramm Haschisch, erreicht man eine
Wirkungsdauer von etwa 1 - 4 Stunden (vgl.
Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.0., Seite
381).
Die kurz- wie langfristige Wirkung des Cannabis
hängt -wie bei vielen anderen Drogen- ebenso davon
ab, wieviel und wie häufig man es konsumiert, wie
auch davon, in welchem "set und Setting" dies
-29-
geschieht, wobei alle Faktoren von einander abhän-
gig sind. Dabei hängen Art und Weise des Erlebens
von Cannabisprodukten in besonderer Weise vom "set
und Setting" ab, also von der Situation, in der
man Cannabis einnimmt, vom eigenen persönlichen
Zustand wie von der sozialen Umgebung, von den
eigenen ängsten und Hoffnungen und den in der
Gruppe wie in der umfassenderen Kultur mit diesem
Genuß verbundenen Erwartungen (vgl. hierzu Quensel,
Drogenelend, Campus 1982, Seite 76). Die Effekte,
die mit der Einnahme von Cannabisprodukten ver-
bunden sind, lassen sich sozial erlernen, wobei
die Erwartungshaltung eine große Rolle spielt
(vgl. Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O.,
Seite 381). Bei stärkerer Dosis, also insbesondere
beim Trinken oder Essen oder bei der Verwendung
von Haschischöl, sind eindeutigere halluzinogene
Effekte zu erwarten (vgl. Quensel, Drogen und Dro-
genpolitik, a.a.O., Seite 382). Nicht nur das
Ausmaß der Dosis -etwa die Art und Weise, wie man
einen "Joint" füllt- und Inhalte des Erlebens sind
soziokulturell erlernt, sondern auch die Häufig-
keit des Konsums, was als leichter bzw. schwerer
Gebrauch gilt, zu welcher Gelegenheit man Cannabis
konsumiert und wann man damit aufhören soll (vgl.
Ouensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.0., Seite
382).
Die psychischen Wirkungen beschreibt Binder
(Haschisch und Marihuana, Deutsches ärzteblatt
1981, Seite 120) wie folgt:
-30-
"Nach dem Rauchen von 1 Gramm Marihuana entsteht
ein etwa drei Stunden dauernder Rauschzustand, der
durch ein Gefühl von Losgelöstheit charakterisiert
ist, das eine meditative Versenkung oder eine Hin-
gabe an sensorische Stimuli erlaubt. Der Zustand
ist im allgemeinen frei von optischen und akusti-
schen Halluzinationen, die beim vier- bis fünf-
fachen dieser Dosis auftreten können. Subjektiv
gesteigert wird die Gefühlsintensität beim Hören
von Musik, beim Betrachten von Bildern, bei Essen
und Trinken und bei sexueller Aktivität. Der
Rausch ist zweiphasig und geht nach der Anregungs-
phase in eine milde Sedierung über. Bei der
genannten Dosierung dominiert eine passive
euphorische Bewußtseinslage, bei höherer Dosierung
kann es zu paranoiden Vorstellungen und Dysphorie
kommen.... Die Droge führt kaum zu Toleranzbildung
und die Konsumenten kommen über Jahre ohne
Dosissteigerung aus."
Cannabis besaß bis in dieses Jahrhundert auch bei
uns eine medizinische Bedeutung. Weltweit galt es
stets als wichtiger Bestandteil der Volksmedizin
(vgl. Ouensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O.,
Seite 382 m.w.N.). In neuerer Ze,it untersucht man
die Wirkungen von Cannabis bei Glaukomen zur
Verminderung des Augeninnendrucks, bei spastischen
Krämpfen und Epilepsie sowie bei Asthma und
Anorexia nervosa. Eine ganz besondere Bedeutung
gewann es als Mittel gegen den Brechreiz bei
Anti-Krebs-Mitteln. In den USA hat man deshalb 500
Krankenhäusern THC zur Bekämpfung dieses Er-
-31-
brechens praktisch freigegeben und in 23 Staaten
diese Behandlung dem Ermessen jedes Arztes über-
lassen (vgl. Ouensel, Drogen und Drogenpolitik,
a.a.O., Seite 382 m.w.N.).
Ein Blick auf Umfragedaten belegt, daß vornehmlich
jüngere Menschen Cannabis konsumieren. Sie tun
dies, um ihre Stimmung zu heben (34 %), um den
Alltag zu vergessen (28 %), weil man sich
entspannt (25 %), Hemmungen überwindet (24 %),
intensiver hört und sieht (19 %), und weil man
leichter Kontakt zueinander bekommt (17 %) (vgl.
Quensel, Drogenelend, a.a.O., Seite 76 m w.N.).
(b) Körperliche und psychische Auswirkungen
aa.) Körperliche Auswirkungen
Die körperlichen Auswirkungen des Cannabisge-
brauches sind relativ gering. Herz und Kreislauf
werden nicht beeinträchtigt, wenn auch der Puls
aktiviert wird. Aus diesem Grunde besteht bei
Personen mit Kreislaufschäden Anlaß, mit dem Ge-
brauch von Cannabis vorsichtig umzugehen. Wissen-
schaftliche Beweise dafür, daß der Konsum von
Cannabis sowohl bei der Fortpflanzung als auch im
Immunsystem Schäden hervorruft, sind bislang nicht
vorgelegt worden. Der Sachverständige Prof. Dr.
Dominiak hat darauf verwiesen, daß es zwar in
Tierversuchen Hinweise für solche Wirkungen gebe,
-32-
er hat jedoch eine Übertragung der im Tierversuch
gewonnenen Erkenntnisse auf den menschlichen Orga-
nismus abgelehnt. Zur Begründung hat er angeführt
daß der tierische Organismus häufig in ganz
anderer Weise reagiere als der Mensch. Darüber
hinaus werde gerade bei den typischen kleinen
Säugetieren mit Dosen gearbeitet, die knapp unter-
halb der bei Menschen praktisch nicht erreichbaren
Todesdosis liegen. Schließlich fehle bei den
Labor- wie Tierversuchen der Blindversuch, nachdem
der Auswertende nicht wissen darf, welches Objekt
Cannabis erhielt und welches nicht (vgl. hierzu
Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., S.
385).
Darüber hinaus kann das Rauchen von Cannabis zu
Lungenschäden führen. Dieser mögliche Schaden ist
jedoch im Vergleich mit dem Schaden, der durch das
Rauchen selbst verursacht wird, eher zweitrangig.
Da Haschisch aber auch in anderer Form konsumiert
werden kann (durch Trinken im Tee; durch Essen im
Kuchen) ist diese mögliche Schädigung der Lunge
kein spezifisches Risiko des Cannabiskonsums,
bb.) Psychologische Auswirkungen
Es gibt derzeit keinen Beweis für den Abbau
zerebraler Funktionen und Intelligenzleistungen
durch chronischen Cannabisgebrauch. Jedoch ist die
zur Intelligenzleistung notwendige Funktion des
Kurzzeitgedächtnisses unter Einfluß von Cannabis
-33-
reduziert (vgl. Schönhöfer, Die Pharmakologie der
Cannabis-Wirkstoffe, in Arzneimittelforschung 23,
1973, Seite 55).
Es gibt auch keinen medizinischen Hinweis, daß der
Cannabiskonsum originär Psychosen hervorruft. Der
Sachverständige Dr. Barchewitz hat ausgeführt, daß
der Cannabiskonsum allenfalls eine bereits
vorhandene Psychose zum Ausbruch bringen kann.
Diese lediglich auslösende Funktion können auch
andere Rauschmittel oder entsprechende Medikamente
hervorrufen. Die eigentliche Schädigung in der
Psyche hat nach den Angaben des Sachverständigen
jedoch bereits vorher stattgefunden. Zu diesen
Angaben des Sachverständigen paßt auch die bei
Quensel (vgl. Drogen und Drogenpolitik, a.a.O.,
Seite 387) getroffene Feststellung:
"Zur Zeit gibt es keine zureichenden Gründe, die
dafür sprechen, daß eine Cannabis-Psychose als
besonderer klinischer Befund existiert". Der
Sachverständige Dr. Barchewitz hat auf entspre-
chenden Vorhalt diese Aussage bestätigt.
Die Beweisaufnahme hat auch ergeben, daß das so-
genannte "amotivationale Syndrom" keine
spezifische Folge des Cannabis-Konsums ist. Bei
dem "amotivationalen Syndrom" handelt es sich um
ein durch "Apathie, Passivität und Euphorie
gekennzeichnetes Zustandsbild". Der
Sachverständige hat in Übereinstimmung mit
Schönhöfer (vgl. a.a.O., Seite 55) ausgeführt, daß
es nicht möglich sei, eine kausale Beziehung
zwischen dem Cannabisgebrauch und dem "amotiva-
tionalen Syndrom" herzustellen. Schönhöfer
-34-
hält hier vielmehr einen Umkehrschluß für zu-
lässig. Nach seiner Meinung machen die Elemente
des ämotivationalen Syndroms" erst das
Rauscherlebnis des Cannabiskonsums interessant und
bedingen somit diesen Konsum (vgl. Schönhöfer,
a.a.O., S. 55). Auf diese Zusammenhänge hat auch
der Sachverständige Dr. Barchewitz auf
entsprechenden Vorhalt hingewiesen. Dies
entspricht auch den Untersuchungen, auf die
Quensel (Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., Seite
388) verweist. In empirischen Untersuchungen ist
nachgewiesen worden, daß Cannabiskonsumenten
"weniger sorgfältig, weniger diszipliniert und
nicht so strebsam" sind wie eine Kontrollgruppe,
"was sich auch darin zeigt, daß sie signifikant
weniger nach Erfolg strebt". Jedoch seien auch
potentielle Konsumenten, die nicht strikt gegen
Cannabis eingestellt gewesen seien, aber noch kein
Cannabis konsumiert hätten, signifikant weniger
karriere-orientiert... als die Antikonsumenten".
Ouensel kommt daher zu der Auffassung, daß
Cannabis eingebunden in einen größeren Lebensstil
sei, der schon vor dem Konsum vorhanden gewesen
sei und deswegen allenfalls als Symptom, jedoch
nicht als dessen Ursache zu begreifen sei.
Zusammenfassend lassen sich deswegen die Befunde
zum psychischen Bereich wie folgt beschreiben:
Nach derzeitigem Wissensstand sind keine
gravierenden Störungen zu erwarten, wenn auch
Personen mit Neigungen zu psychischen Störungen
ebenso auf Cannabis verzichten sollten wie
diejenigen, die sich damit sozial unerträglichen
Situationen entziehen wollen.
-35-
cc.) Körperliche Abhängigkeit
Körperliche Entzugserscheinungen sind bei Cannabis
-anders als bei Alkohol und harten Drogen- prak-
tisch nicht zu beobachten. Der Sachverständige
Prof. Dr. Dominiak hat hierzu ausgeführt, daß
allenfalls -vergleichbar wie beim Absetzen der
täglichen Kaffeedosis- leichte Schlafstörungen,
Irritierbarkeit und innere Unruhe auftreten
können. Auch seien Dosissteigerungen aus physiolo-
gischen Gründen nicht festzustellen. Vielfach ist
sogar beobachtet worden, daß erfahrene Konsumenten
weniger Cannabis brauchen, um "high" zu werden als
Anfänger (vgl. Quensel, Drogen und Drogenpolitik,
a.a.O., Seite 389 m.w.N.).
Die Sachverständigen haben darüber hinaus ausge-
führt, daß allenfalls eine leichte psychische Ab-
hängigkeit vorhanden sei. Diese sei aber nicht.
anders einzustufen, als die, die beim täglichen
Kaffeetrinken entstehe. Quensel (Drogen und
Drogenpoltik, a.a.O., Seite 389) führt hierzu
folgendes aus: "Eine Vorstellung von diesen
Schwierigkeiten kann man gewinnen, wenn man an das
eigene abendliche Glas Bier denkt, an den üblichen
Morgenkaffee oder an die Leere, die entsteht, wenn
man das Rauchen aufgibt -dieselbe Leere überfällt
uns, wenn der Fernseher repariert werden muß, die
Tageszeitung wegen Streiks fehlt, die Prüfung
bestanden ist oder bei Arbeitslosigkeit oder
Verrentung der alltägliche Arbeitstrott ausfällt."
dd.) Tödliche Dosis
Bei dem Cannabiskonsum gibt es im Gegensatz ,zum
Alkohol, Nikotin und harten Drogenkonsum keine
wissenschaftlich ermittelte letale (= tödliche)
Dosis. Todesfälle die auf exzessiven Konsum
zurückzuführen sind, sind bei Haschisch nicht
bekannt.
-36-
(c) Gesellschaftliche Auswirkungen
aa.) Anzahl der Haschischkonsumenten
Die Gesamtzahl der Konsumenten ist nicht bekannt.
Die Angaben hierüber schwanken. Körner geht in
seinem Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz unter
Berufung auf die Zeitschrift Suchtreport 1988,
Heft 2 von ca. 3 bis 4 Mio Cannabisabhängigen aus
(vgl.. Körner a.a.O., Einleitung Seite 9). In der
Auskunft des Bundesgesundheitsamtes vom 21. Dezem-
ber 1990 wird eine Zahl von mehreren Hunderttau-
send und 1 bis 2 Mio angegeben. Der Drogenexperte
Berndt Georg Thamm schätzt in seinem Buch "Drogen-
freigabe-Kapitulation oder Ausweg ?" (Verlag
Deutsche Polizeiliteratur GmbH, 1989) für die
Bundesrepublik eine Anzahl von über 2 Mio. Konsu-
menten von Cannabisprodukten (vgl. Thamm, a.a.O.,
Seite 232).
bb.) Haschischtherapie
Es gibt keine spezielle Haschischtherapie und auch
keine therapeutische Einrichtung für Haschischkon-
sumenten. Dort wo Haschischkonsumenten einer
psychologischen oder psychiatrischen Behandlung
bedürfen, ist nach den Darlegungen des Sachver-
ständigen Dr. Barchewitz der Haschischkonsum nicht
die Ursache. Vielmehr steckt dahinter ein persön-
liches Problem. Ist dies behoben, dann schwindet
auch das Bedürfnis zum Konsum, da dieser körper-
lich nicht bedingt ist.
-37-
cc.) Auswirkungen auf strafbare Handlungen
Im Gegensatz zum Alkohol und zu den sogenannten
harten Drogen wird die polizeiliche Kriminalsta-
tistik nicht unter dem Gesichtspunkt geführt, ob
der Tatverdächtige die Tat unter dem Einwirken von
Cannabiskonsum begangen hat. Es. gibt in der poli-
zeilichen Kriminalstatistik hierzu keine statisti-
schen Erhebungen. Daraus läßt sich entnehmen, daß
dies für die Begehung von Straftaten kein relevan-
ter Faktor ist. Dies verdient besondere Hervorhe-
bung im Verhältnis zum Alkohol, weil der Alkohol
häufig eine stimulierende Wirkung hat, die insbe-
sondere die Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten för-
dert. Haschisch hat eine im Grundsatz umgekehrte
Wirkungsweise. Der Konsum von Haschisch führt zu
einer Hinwendung nach innen und begleitend dazu zu
einem Rückzug von der äußeren sozialen Realität
Dabei hat die Einnahme von Haschisch nach den Aus-
führungen der Sachverständigen regelmäßig eine
mehr beruhigende und einschläfernde Wirkung.
Allerdings sei davon auszugehen, daß sich insbe-
sondere diese Eigenschaften im Straßenverkehr
nachteilig bemerkbar machen könnten.
ff.) Einstiegsdroge
Im Gegensatz zu den Motiven des Gesetzgebers bei
der Neufassung des Betäubungsmittelgesetzes im
Jahre 1971 steht zur Überzeugung der Kammer nach
den Ausführungen der Sachverständigen und der
dabei erörterten und vorgehaltenen Literatur fest,
daß Haschisch keine "Einstiegsdroge" für härtere
Drogen ist und auch keine Schrittmacherfunktion
entfaltet.
-38-
Die Sachverständigen haben in Übereinstimmung mit
der Auskunft des Bundesgesundheitsamtes zunächst
festgestellt, daß es keinen medizinischen und bio-
------------- ----
logischen Auslöser für die Behauptung gibt, daß
---------
Konsumenten sogenannter weicher Drogen auf harte
Drogen umsteigen.
Das Schweizer Bundesgericht hat sich in seinem
Entscheid vom 29. August 1991 (vgl. Strafver-
teidiger, 1992, Seite 18 ff.) mit der angeblichen
Gefährlichkeit von Cannabisprodukten auseinander-
gesetzt und dabei auch zur Einstiegstheorie bzw.
zur Umsteigegefahr Stellung genommen. Dabei hat es
den Sachverständigen Prof. Kind zitiert, der dar-
gelegt hat, daß diese Behauptung (Einstiegsdroge)
heute eindeutig widerlegt sei. Abschließend heißt
es in der Entscheidung des Schweizer Bundesge-
richts:
"Der Gebrauch von Cannabis führt ferner keineswegs
zwangsläufig zu jenem gefährlicherer Stoffe; nach
neuesten Schätzungen greifen insgesamt etwa 5 %
aller Jugendlichen, die Erfahrung mit Cannabis
haben, zu härteren Drogen (Geschwinde, a.a.O.,
Seite 44 N 166)."
Auch Körner lehnt in seinem Kommentar zum Betäu-
bungsmittelgesetz die Theorie von Haschisch als
Einstiegsdroge ab. Es helßt dort (a.a.O., Anhang C
1, Seite 1070):
-39-
Die Theorie von Haschisch als Einstiegsdroge ist
kein überzeugendes Argument, weil der Weg zum
Heroin ebenso häufig über Alkohol und Tabletten-
konsum verläuft, ohne daß deshalb ein Verbot von
Alkohol oder Tabletten zu fordern wäre."
Die Kammer lehnt daher in Übereinstimmung mit den
Sachverständigen und den vorstehenden zitierten
Autoren die Theorie von der "Einstiegsdroge" ab.
Die Theorie von der sogenannten Einstiegsdroge
wird von der (unzutreffenden) Denkschablone
getragen, daß aus der Verwendung der Droge ein
Drang nach Dosissteigerung logisch folge und
dieser von der leichten zur starken Dosis führen
müsse (vgl. hierzu Quensel, Drogen und Drogenpoli-
tik, a.a.O., Seite 391). Dabei wird übersehen und
unberücksichtigt gelassen, ob die Drogen in ihrer
Wirkung miteinander vergleichbar sind und daß dann
doch der leichte und beliebig steigerbare Alkohol-
konsum als Alternative viel näher liegt (vgl.
Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., S.
391).
Es wurde bereits darauf verwiesen, daß der
Cannabiskonsum in seiner Zielrichtung eine mehr,
beruhigende und sedierende Wirkung hat, während
zum Beispiel die Drogen Kokain und Heroin stark
euphorisierende Auswirkungen haben. Diese Drogen
stellen daher von ihrer Wirkungsweise keine Stei-
gerung der Cannabisprodukte dar, sondern haben
eine vielmehr entgegengesetzte, dem Alkohol
ähnliche Wirkung. Deshalb fehlt es schon an
-40-
einer den Umstieg tragenden subjektiven Zielvor-
stellung, die darauf angelegt ist, die Wirkungs-
weise des bisherigen Rauschmittels zu steigern.
Darüber hinaus führt gerade der Konsum von
Haschisch -wie bereits dargelegt- nicht zu einer
Toleranzausbildung, die nach immer stärkeren Dosen
drängt. Im Gegenteil: haschischgewöhnte Konsumen-
ten werden regelmäßig mit einer niedrigeren Dosis
"high" als Anfänger (vgl. oben S. 30).
Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, die
Umstiegstheorie statistisch wie folgt zu begründen
(vgl. dazu Täschner, Das Cannabis-Problem 1979,
Seite 169; zitiert nach Kreuzer, NJW 1982. Seite
1311):
"Untersucht man andererseits aber klinisch-statio-
när behandelte Drogenabhängige, meist
Heroinsüchtige oder Polytoxikomane, so stellt man
fest, daß sie ihre Drogenkarriere zu 98 bis 100 %
mit Haschisch begonnen hatten."
Kreuzer verweist in seinem Aufsatz auf Untersu-
chungen von Prof. Keub, wonach diese Theorie in
den USA "schon längst tot war, als -scil. bei
uns- die Drogenwelle 1968 begann". Kreuzer führt
weiterhin aus, daß Prof. Keub in einer Studie
nachgewiesen habe, daß Alkohol die Haupteinstiegs-
droge sei und daß bei einem Drogenkongreß in Wien
alle anwesenden Experten verschiedener Disziplinen
die Einstiegstheorie verworfen hätten (vgl.
Kreuzer, a.a.O., Seite 1311 Fußnote 9). Kreuzer
führt in seinem Aufsatz auch weitere Unter-
-41-
suchungen an, die für deutsche Verhältnisse die
Unhaltbarkeit der Einstiegstheorie ergeben hätten
(vgl. Kreuzer, a.a.O., Seite 1311 Fußnote 10).
Darüber hinaus läßt sich die Einstiegstheorie auch
anhand der statistischen Zahlen über die ge-
schätzten Drogenabhängigen widerlegen. Der
Pharmakologe Schönhöfer hat in seinem Aufsatz
(a.a.O., Seite 54) die Umsteigetheorie an Zahlen,
die für Amerika gelten, überprüft. Wörtlich heißt
es: "Der Direktor des "Natonal Institute of Mental
Health" schätzte in einem Hearing vor dem
"subcommittee to Investigate Juvenile Delinquency"
am 17. September 1969 die Zahl der Jugendlichen
Marihuana-Konsumenten in USA auf 8 bis 12 Mio. Im
Mai und Oktober des gleichen Jahres
veröffentlichte die "Washington Post" Gallup-Um-
fragen, die die Zahl der Marihuana-Konsumenten mit
rund 10 Mio angaben. Nach der hier in der Bundes-
republik üblichen Umsteigertheorie müßten also
heute rund 30 % dieser Menschen, mithin also 3
Millionen Heroinsüchtige sein. Das ist nicht der
Fall. Die Zahl der Heroinsüchtigen in den USA
liegt bei 200.000 mit einer geschätzten Dunkel-
ziffer gleicher Größe, also insgesamt bei 400.000.
Das sind zwischen zwei bis vier, rund also
höchstens 5 % der Marihuana-Konsumenten."
Diese Zahlen belegen, daß ein Umstieg nur in
geringem Umfange stattfindet. Sie entsprechen den
Zahlen, die das Schweizer Bundesgericht zugrunde
gelegt hat, und die auch auf die Bundesrepublik
zutreffen. Nach den Ausführungen des Sachverstän-
digen Dr. Barchewitz ist davon auszugehen, daß es
in der Bundesrepublik ca. 100.000 Drogenabhängige
-42-
gibt, die sogenannte harte Drogen konsumieren. Die
Zahl der Haschischkonsumenten liegt -wie bereits
dargelegt- zwischen 2 und 4 Mio.. Dieses krasse
Mißverhältnis von Cannabiskonsumenten zu Konsu-
menten "harter" Drogen beweist, daß offensichtlich
kein kausaler Umsteigeeffekt vorhanden ist.
Dies haben auch die von der Kammer gehörten Sach-
verständigen ausdrücklich bestätigt. Sie haben
vielmehr darauf verwiesen, daß eine Suchtkarriere.
die einmal beim Heroin ende, typischerweise vom
frühen Gebrauch von Nikotin oder Alkohol geprägt
sei. Sie meinen daher, daß der Gebrauch dieser bei
uns üblichen Konsumdrogen viel eher einen Ein-
stiegseffekt aufweise. Darüber hinaus haben die
Sachverständigen darauf hingewiesen, daß ein
Umsteigeeffekt allenfalls durch den gemeinsamen
illegalen Drogenmarkt erfolge. Sie haben hierzu
ausgeführt, daß der Haschischkonsument die Droge
vom gleichen Dealer bekomme, der auch über "harte"
Drogen verfüge. Aus diesem "sozialen Kontakt"
ergebe sich eine sehr viel größere Gefahr des
Umsteigens als aus dem Konsum und den damit
verbundenen Wirkungen (so auch Binder, a.a.O.,
Seite 125).
Die Kammer weiß aus einem Referat des Amsterdamer
Strafrechtsprofessors Dr. Rüter, das auch insoweit
in der Hauptverhandlung erörtert worden ist, daß
gerade aus diesen Gründen die niederländische
Drogenpolitik eine Trennung der Märkte von
"weichen" und "harten" Drogen anstrebt.
-43-
Die Einrichtung von sogenannten "Coffee-Shops", in
denen Cannabis-Produkte zum Konsum frei ver-
käuflich erworben werden können, ohne daß
strafrechtliche Verfolgung zu befürchten ist, hat
zum Ziel, den "sozialen Kontakt" des Konsumenten
"weicher" Drogen zu "harten" Drogen beim Ankauf zu
unterbinden. Deswegen müssen die Inhaber von
"Coffee-Shops" mit Bestrafungen und Schließung
ihrer Geschäfte rechnen, wenn sie "harte" Drogen
verkaufen. Durch diese Trennung der Märkte wird
nach Auffassung der Niederländer der mögliche
Umsteigeeffekt, der durch den "sozialen Kontakt"
mit dem gleichen Dealer bewirkt werden kann,
erheblich reduziert.
c) Zusammenfassend kann daher festgestellt werden.
daß die individuellen und gesamtgesellschaftlichen
Wirkungen von Haschisch denkbar gering sind.
(1) Das Schweizerische Bundesgericht hat in seiner
Entscheidung vom 29. August 1991 (a.a.O., Seite
19) hierzu folgendes festgestellt:
"Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse
läßt sich somit nicht sagen, daß Cannabis geeignet
sei, die körperliche und seelische Gesundheit
vieler Menschen in eine naheliegende und
ernstliche Gefahr zu bringen."
(2) Der Sachverständige Prof. Dr. Dominiak hat
erklärt, daß Cannabis nach seiner Kenntnis das
Rauschmittel mit den geringsten individuellen und
gesamtgesellschaftlichen Wirkungen sei, das es zur
Zeit auf der Welt gebe. Binder hat in seinem
Aufsatz im Deutschen ärzteblatt (a.a.O., Seite
124) ausgeführt:
-44-
"Medizinisch gesehen, dürfte der Genuß von ein bis
zwei Joints Marihuana (ein bis zwei Gramm
Marihuana, resorbierte THC-Menge 8-16 mg) pro Tag
unschädlich sein, zumindest aber weniger schädlich
sein, als der tägliche Konsum von Alkohol oder von
20 Zigaretten. Für alle drei Drogen gilt das
Prinzip "sola dosis facit venenum" und somit wäre
gegen den gelegentlichen Konsum von Marihuana im
Grunde genau so wenig einzuwenden wie gegen das
gelegentliche Glas Wein oder die gelegentliche
Zigarette, Jede Droge im übermaß genossen, ist
schädlich."
(3) Soweit der exzessive Gebrauch von Cannabisproduk-
ten bei bestimmten Risikogruppen zu bestimmten
-nicht ernstlichen- Schädigungen führen kann. ist
darauf hinzuweisen; daß dies grundsätzlich für
fast alle Substanzen gilt, die der Mensch zu sich
nimmt (Zum Problem ,der fehlenden Relation zwischen
Extrem- und Normalkonsum aus sozialwis-
senschaftlicher Sicht vgl. Kreuzer, a.a.O., S.
1312). Auch der exzessive Gebrauch von Zucker kann
zu Schädigungen führen. Darüber hinaus haben
zahlreiche rezeptpflichtige Schmerz-, Schlaf- und
Beruhigungsmittel bei langandauernden, übermäßigen
Konsum Sucht und schwere gesundheitliche Schäden
mit teils tödlichem Ausgang zur Folge.
Entzugstherapien bei Medikamentenabhängigkeit sind
aufwendig. Medikamentenmißbrauch kann auch
Psychosen auslösen. Auch nicht rezeptpflichtige
Schmerzmittel und sogar Vitamine können bei
übermäßiger Dosierung zu schweren Gesundheitsschä-
den führen, Bei Aspirin drohen z.B. Magengeschwüre
-45-
und Magenblutungen. übermäßige Vitamin A-Zufuhr
z.B., wie sie durch die Einnahme von mehr als drei
Multivitamin-Tabletten geschehe, überschreitet bei
einer Leibesfrucht den Grenzwert und kann zu
Fruchtschäden führen.
3.) Unter Berücksichtigung aller vorstehend festge-
stellten Auswirkungsfaktoren von Alkohol auf der
einen und Cannabisprodukten auf der anderen Seite
steht zur überzeugung der Kammer fest, daß es
unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten
keinen sachgerechten und nachvollziehbaren Grund
gibt, den Verkehr und Konsum mit Cannabisprodukten
zu bestrafen und den von Alkohol straf los zu
lassen. Die sachwidrige Differenzierung
aufrechtzuerhalten, würde die fundierten
all gemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der
Gesellschaft mißachten (vgl. BVerfGE 9, 349; 13,
228). Sachliche Gründe sind bei zusammenfassender
Bewertung der von der Kammer getroffenen
Feststellungen für die unterschiedliche Behandlung
von Alkohol und Cannabisprodukten "schlechterdings
nicht mehr erkennbar" (vgl. BVerfGE 3, 136). Die
Aufrechterhaltung dieser nicht mehr
nachvollziehbaren Differenzierung würde einen
Verstoß gegen das allgemeine Gerechtigkeits-
empfinden darstellen (vgl. BVerfGE 3, 136).
a) Dabei ist vorliegend noch gesondert zu berücksich-
tigen, daß die hier festgestellte -aus der Sicht
der Kammer-willkürliche Differenzierung noch
strafbewehrt ist. Die Bewegungsfreiheit, die der
Gesetzgeber im Rahmen des Artikel 3 Grundgesetz
-46-
hat, wird dort zusätzlich eingeengt, wo er die
Differenzierung mit dem härtesten Mittel staat-
licher Sanktionen -nämlich mit dem Strafrecht-
durchsetzen und absichern will (vgl. hierzu ins-
besondere BVerfGE 39, 45 ff.). Die Strafnorm
stellt gewissermaßen die "ultima ratio" im
Instrumentarium des Gesetzgebers dar. Hiervon darf
er nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen
(vgl. BVerfGE 39, 47). Es ist daher aus
verfassungsrechtlicher Sicht ein besonders stren-
ger Maßstab an die Gründe zu legen, die den Ge-
setzgeber zur Differenzierung bzw. zur Ungleich-
behandlung bewegen. Dabei ist der Gesetzgeber
gehalten, seine einmal gefaßten Prognosen bei der
Schaffung eines Gesetzes fortlaufend zu überprüfen
und die einmal gewonnenen Erkenntnisse veränderten
Erkenntnissen anzupassen (vgl. BVerfGE 25, 13; 50,
335). Aufgrund der Ausführungen, die die
Sachverständigen gemacht haben und denen die
Kammer folgt, können die Einschätzungen, Bewertun-
gen und Prognosen, mit denen der Gesetzgeber die
Bestrafung von Cannabiskonsumenten ursprünglich
begründet hat (vgl. oben S. 12-14), nicht mehr
aufrechterhalten werden.
b) Deshalb stehen auch die Gründe des Nichtannahmebe-
schlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 17.
Dezember 1969 der hier eingenommenen Rechtsauf-
fassung nicht entgegen, Sie unterstützten vielmehr
die hier vertretene Rechtsauffassung, weil das
Bundesverfassungsgericht in den Beschlußgründen
davon ausgeht, daß Art. 3 Absatz 1 GG verletzt
ist, wenn eindeutig feststeht, daß Cannabispro-
dukte mindestens genauso gefährlich sind wie der
Alkohol. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer
Verfassungsbeschwerde (1 BvR 639/69) zur Verfas-
sungsgemäßheit der Bestrafung von Cannabis-Kon-
sumenten ausgeführt:
-47-
"Der Gesetzgeber behandelt nicht wesentlich
Gleiches ungleich, wenn er sich darauf beschränkt,
das Aufkommen neuer Betäubungsmittel aus fremden
Kulturkreisen zu verhindern, solange nicht eindeu-
tig feststeht, daß die damit verbundenen gesund-
heitlichen und sozialen Gefahren nicht größer sind
als die des Mißbrauchs von Alkohol."
Das Bundesverfassungsgericht ist in diesem
Beschluß aus dem Jahre 1969 offensichtlich davon
ausgegangen, daß es nicht eindeutig feststehe, daß
die mit den Cannabis verbundenen gesundheitlichen
und sozialen Gefahren genau so groß wie die des
Mißbrauchs von Alkohol seien. Nach den Erkenntnis-
sen, die die Kammer gewonnen hat, läßt sich eine
solche Auffassung heute nicht mehr rechtfertigen.
Die von der Kammer getroffenen Feststellungen be-
legen, daß die gesundheitlichen und sozialen Ge-
fahren, die mit dem Haschischkonsum verbunden
sind, sogar ungleich geringer einzustufen sind als
die, die mit dem Mißbrauch von Alkohol verbunden
sind (so auch das Schweizer Bundesgericht in
seinem Entscheid, a.a.O., S. 18). Diese
Feststellungen führen auf der Grundlage der
Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts in
seinem Beschluß vom 17. Dezember 1969 zwangsläufig
zu einem Verstoß gegen Art. 3 Absatz 1 GG.
-48-
c) Letztlich läßt sich ein Verstoß gegen Artikel 3
Absatz 1 GG nicht mit dem Hinweis verneinen, daß
es "keine Gleichbehandlung im Unrecht" gebe. Es
stellt im verfassungsrechtlichen Sinne kein
"Unrecht" dar, wenn der Gesetzgeber darauf
verzichtet, den Konsum und Verkehr von Alkohol mit
den Mitteln des Strafrechts zu kontrollieren. Dies
ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. so
daß nicht -unter verfassungsrechtlichen Gesichts-
punkten- argumentiert werden kann, wenn der
Gesetzgeber schon eine so gefährliche Droge wie
Alkohol äkzeptiere", so sei er nicht gezwungen,
weitere gefährliche Drogen gleichfalls zu äkzep-
tieren". Im politischen Raum mag so argumentiert
werden. Verfassungsrechtlich setzt Artikel 3
Absatz 1 GG hier dem Gesetzgeber im Rahmen seiner
politischen Ermessensspielräume Grenzen. Diese
sind nach den vorstehenden Ausführungen in der
hier zu beurteilenden Fallkonstellation verletzt.
II. Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz
--------------------------------------------
Die Bestrafung der Abgabe von Cannabis-Produkten, die
dem Eigenkonsum dienen, ist auch unvereinbar mit
Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz, Artikel 2 Absatz 1
Grundgesetz sichert die freie Entfaltung der Persön-
lichkeit.
-49-
1.)Zu den grundlegenden Sektoren menschlicher Selbstbe-
stimmung, die über Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz ge-
schützt werden, gehört auch die verantwortliche Ent-
scheidung darüber, welche Nahrungs-, Genuß- und
Rauschmittel der Bürger zu sich nimmt. Rauschmittel
sind mit der menschlichen Geschichte untrennbar
verbunden. Sie sind so alt wie die Menschheit. Dem
Kulturmenschen sind seit Jahrtausenden Drogen bekannt.
Wildpflanzen wie der Cocastrauch, der Hanf und der
Schlafmohn wurden zu Kulturpflanzen domestiziert. In
der Zeit der ersten frühen Hochkulturen unterschied
man bereits zwischen Pflanzendrogen, animalischen
Drogen und Mineraldrogen. Je nach Wirkung und Anwen-
dungsbereich wurden diese den Arzneidrogen, Gewürzdro-
gen, Riechstoff-oder Räucherdrogen zugeordnet. Bereits
in der Antike waren Drogen begehrte Handelsobjekte und
dementsprechend gab es Bemühungen, den in der Regel
lukrativen Drogenhandel unter Kontrolle zu bringen
(vgl. hierzu Thamm, a.a.O., Seite 26; GEO-Wissen,
Sucht und Rausch, Nr. 3, Seite 100). Die Geschichte
der Drogen belegt auch, daß die Menschen, obwohl der
Konsum von Drogen mit der Zeit auch erhebliche soziale
und individuelle Probleme herbeiführte, auf den
Gebrauch nicht verzichten konnten oder wollten. "Was
den Alltag vergessen machte, haben sie sich
einverleibt (vgl. GEO. a.a.O., Seite 100)." Der Rausch
gehört daher, wie Essen, Trinken und Sex, zu den
fundamentalen Bedürfnissen des Menschen. Je techni-
sisierter, schneller und funktionaler eine Gesell-
schaft aufgebaut ist, desto stärker wird das Be-
dürfnis, aus dieser Umklammerung auszubrechen. In
einer Konsumgesellschaft -wie der unserigen- ist der
Wunsch nach dem Rausch auch eine Folge der gesell-
-50-
schaftlichen Bedingungen und Freiheite.n. Der Rausch
ist ein Mittel den von dieser Gesellschaft ge-
schaffenen Zwängen zu entrinnen und im Rausch Zuflucht
zu suchen.
Die Kammer ist.daher der Auffassung, daß das "Recht
auf Rausch" durch Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz im
Rahmen der freien Entfaltung der Persönlichkeit als
zentraler Sektor menschlicher Selbstbestimmung ge-
schützt ist.
2.)Das "Recht auf Rausch" als grundrechtlich geschützte
Position des Rechts auf freier Entfaltung der Persön-
lichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz ist auch
nicht deswegen aus dem Schutzbereich dieser Verfas-
sungsvorschrift auszuscheiden, weil der exzessive
Gebrauch zur Selbstschädigung führen kann. Es gehört
nicht nur zum Schutzbereich, des Artikel 2 Absatz 1
Grundgesetz in freier Selbstbestimmung zu entscheiden,
ob mit einem bestimmten Verhalten eine Selbstgefähr-
dung verbunden ist, sondern dies ist auch Ausdruck der
in Art. 1 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz geschützten
unantastbaren Würde des Menschen. Zum Wesensgehalt der
Unantastbarkeit menschlicher Würde gehört gerade die
freie und selbstbestimmte Entscheidung über sich
selbst. Dabei steht es dem Einzelnen frei, sich nicht
-51-
nur selbst zu schädigen oder die Gefahr einer Selbst-
schädigung in Kauf zu nehmen, sondern in der ver-
fassungsrechtlichen Literatur wird sogar die Auf-
fassung vertreten, daß das Recht auf Selbsttötung
(also die schärfste Form der Selbstschädigung) zum
Schutzbereich des Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 Grund-
gesetz gehört (vgl. Reihe Alternativkommentare.
Kommentar zum Grundgesetz 1984, Artikel 1, Absatz 1
Randnr. 55, Bearbeiter Denninger; zitiert:
AK-Denninger). Der Gesetzgeber hat deswegen die
Beihilfe zur Selbsttötung straflos gelassen.
3.)Gehört das "Recht auf Rausch" zum Schutzbereich des
Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz, dann ist eine
Einschränkung nur dann verfassungsrechtlich zulässig,
wenn diese durch eine der drei Schranken des Art. 2
Abs. 1 Grundgesetz gedeckt ist (sogenannte
Schrankentrias). Gemäß Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz
ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit nur
insoweit geschützt, als dadurch nicht die Rechte
anderer, die verfassungsgemäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verletzt werden. Vorliegend kommt nur die
Schranke der "verfassungsmäßigen Ordnung" in Betracht.
Der Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der
Persönlichkeit wäre nur dann verfassungskonform, wenn
das einschränkende Gesetz Bestandteil der
verfassungsmäßigen Ordnung ist, d.h. es müßte formell
und inhaltlich mit der Verfassung (außerhalb des Art.
2 Abs. 1 Grundgesetz) voll vereinbar sein (vgl. dazu
BVerfGE 17, 313).
-52-
Das strafbewährte Verbot der Abgabe von Haschisch zum
Eigenkonsum steht mit einem tragenden Prinzip der Ver-
fassung, dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht
in Einklang.
a) Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt
-namentlich wenn er in Verbindung mit der allgemeinen
Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers gesehen wird,
wie sie gerade in Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz zum
Ausdruck kommt-, daß der Einzelne vor unnötigen Ein-
griffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt; ist
ein solcher Eingriff in Gestalt eines gesetzlichen
Gebots oder Verbots aber unerläßlich, so müssen seine
-----------
Voraussetzungen möglichst klar für den Bürger erkenn-
bar umschrieben werden (BVerfGE 9, 147,149). Je mehr
dabei der gesetzliche Eingriff elementare äuße-
rungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit be-
rührt, desto sorgfältiger müssen die zu seiner Recht-
fertigung vorgebrachten Gründe gegen den, grundsätz-
lichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden.
Das bedeutet vor allem, daß die Mittel des Eingriffs
zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet
--------
sein müssen und den Einzelnen nicht übermäßig belasten
---------
dürfen (BVerfGE 17, 314). Anders ausgedrückt: Grund-
rechtsbegrenzungen dürfen nur unter strikter Wahrung
des Verhältnismäßigkeitsgebotes erfolgen
(Leibholz-RinckHesselberger, a.a.O., Art: 2 Rdz.38).
-53-
Im Sinne dieser Verhältnisbestimmung muß die Grund-
rechtsbegrenzung geeignet sein, den Schutz des Rechts-
gutes zu bewirken, um dessentwillen sie vorgenommen
wird. Sie muß hierzu erforderlich sein, was nicht der
Fall wäre, wenn ein milderes Mittel ausreichen würde,
und schließlich muß sie im engeren Sinne verhältnis-
mäßig sein, d.h. in angemessenem Verhältnis zu dem
Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts stehen
(Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes-
republik Deutschland, 18. Auflage, 1991, Seite 134
Rdz. 318).
b) Dabei ist eine weitere Verschärfung des Prüfungsmaß-
Stabes angezeigt, wenn sich der Gesetzgeber zur
Durchsetzung des von ihm erstrebten Verbotes einer
Strafnorm bedient. Es ist bereits ausgeführt worden
(vgl. oben Seite 45/46), daß die Strafvorschrift in
der Skala der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten an
der Spitze steht. Die Strafvorschrift ist die "ultima
ratio" staatlichen Eingriffs (BVerfGE 39, 47). Sie
befiehlt dem Bürger ein bestimmtes Verhalten und
unterwirft ihn bei Zuwiderhandlung empfindlichen Frei-
heitsbeschränkungen oder finanziellen Belastungen
(BVerfGE 39, 70). Verfassungsgerichtliche Kontrolle
solcher Vorschriften bedeutet daher die Prüfung. ob
der mit dem Erlaß oder der Anwendung der Strafvor-
schrift verbundenen Eingriff in die grundrechtlich
geschützte Freiheitsphäre zulässig ist, ob also der
Staat überhaupt oder in dem vorgesehenen Umfang
strafen darf (BVerfGE 39, 70). Für die verfassungs-
gerichtliche Überprüfung hat dies zur Konsequenz,
-54-
daß eindeutig feststehen muß, daß das Mittel des Ein-
griffs (hier strafrechtliches Verbot der Abgabe von
Haschisch zum Eigenkonsum) zur Erreichung des gesetz-
geberischen Ziels geeignet ist und den Einzelnen nicht
übermäßig belastet. Zweifel hieran führen nach dem
Grundsatz "In dubio pro libertate" (vgl. AK-Denninger,
a.a.O., vor Art. 1 Anm. 13 m.w.N.) dazu, daß der Ein-
griff in die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß
Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz verfassungswidrig ist.
c) An diesen Grundsätzen orientiert gelangt die Kammer zu
der Auffassung daß das Betäubungsmittelgesetz zumin-
dest insoweit gegen Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz
verstößt, als es Handlungen unter Strafe stellt, die
im Einzelfall darauf abzielen, lediglich Eigen- und
Fremdkonsum in geringem Umfang zu ermöglichen. Ob
darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt des Artikel 2
Absatz 1 Grundgesetz sämtliche Handlungsalternativen
des § 29 Absatz 1 Ziffer 1 Betäubungsmittelgesetz
-soweit sie sich auf Cannabisprodukte beziehen-
verfassungswidrig sind (insbesondere die Einfuhr und
das Handeltreiben in nicht geringen Mengen), braucht
in diesem Zusammenhang nicht entschieden zu werden
(vgl. unten S. 78 ff). Das Verhältnismäßigkeitsgebot
(= übermaßverbot) mit seinen 3 Komponenten
(Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßig-
keit) als Teil des Rechtsstaatsprinzips ist verletzt.
Diese überzeugung stützt die Kammer auf folgende
Argumente:
-55-
Das Betäubungsmittelgesetz zielt im § 29 BtmG darauf
ab, mit Hilfe des Strafrechts den Konsum und Verkehr
mit Drogen zu kontrollieren. Dabei geht der Gesetz-
geber entsprechend der bereits zitierten Zielvor-
stellung hinsichtlich des Konsums und Verkehrs mit
Cannabisprodukten davon aus, daß diese individuell und
gesellschaftlich gefährlich seien und insbesondere den
Weg "in die Welt der Rauschgifte" (=härtere Drogen)
eröffneten.
(1) Es ist bereits dargelegt worden, daß diese Ein-
Schätzung und Bewertung des Gesetzgebers aus dem
Jahre 1970, die bis heute nicht aufgegeben worden
ist, nach den Erkenntnissen, die die Kammer
aufgrund der sachverständigen Ausführungen ge-
wonnen hat, nicht mehr haltbar ist. Die "Ge-
schäftsgrundlage" bzw. der Ausgangspunkt für den
Gesetzgeber ist entfallen. Verfassungsrechtlich
ist der Gesetzgeber gehalten, bei Maßnahmen, die
das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
gemäß Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz einschränken,
zu überprüfen, ob die einmal unterstellten Aus-
gangsbedingungen fortdauern. Dabei kann eine,
aufgrund einer Fehlprognose ergriffene Maßnahme
nicht schon deshalb als verfassungswidrig ange-
sehen werden (vgl. BVerfGE 25, 13). Dem
Gesetzgeber ist jedoch aufgegeben, dann, wenn sich
die ursprüngliche Prognose als fehlerhaft erwiesen
hat, der tatsächlichen Entwicklung Rechnung zu
-56-
tragen und entsprechend der neuen Erkenntniß die
ursprünglich getroffene Maßnahme aufzuheben oder
zu ändern (vgl, BVerfGE 25 13; 49 130).
Diese verfassungsrechtlich gebotene Verpflichtung
zur Flexibilität des Gesetzgebers hat im Betäu-
bungsmittelgesetz auf der Ebene des einfachen
Gesetzes eine besondere Ausprägung erfahren, in-
dem in § 1 Absatz 2 und 3 der Verordnungsgeber
unter bestimmten Voraussetzungen ermächtigt wird,
die Anlagen I bis III zu ändern oder zu ergänzen.
Dies gilt nicht nur für die zusätzliche Aufnahme
-----------
von Stoffen und Zubereitungen, sondern gemäß § 1
Absatz 2 Satz 2 auch für solche Fälle in denen
die Sicherheit und die Kontrolle des Betäubungs-
mittelverkehrs aus anderen Gründen gewährleistet
ist.
Der Verordnungsgeber kann also auch Stoffe und
Zubereitungen aus dem Anwendungsbereich des
Betäubungsmittelgesetzes herausnehmen.
------------
Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausfüh-
rungen und der Feststellungen die die Kammer zur
Gefährlichkeit des Cannabiskonsums getroffen hat,
ist die Bestrafung des Abgebens von Cannabispro-
dukten nicht mehr geeignet (im Sinne des Verhält-
--------
nismäßigkeitsgebotes), die ursprünglichen Motive
des Gesetzgebers durchzusetzen. Eine Freiheits-
-57-
begrenzung, die in den Schutzbereich von Art. 2
Abs. 1 GG eingreift, ist nicht mehr verhältnis-
mäßig -weil ungeeignet-, wenn sich die einmal
zugrunde gelegten Annahmen nachträglich als falsch
erweisen. Haben sich die ursprünglichen Annahmen
als falsch erwiesen, dann ist der Gesetzgeber zu
einer neuen Bewertung aufgerufen, und es kann erst
danach die Frage beantwortet werden, ob das
(nunmehr) gewählte Mittel geeignet ist, die
angestrebte Zielvorstellung zu verwirklichen. Der
festgestellte "Wegfall der Geschäftsgrundlage"
(=Tatsachengrundlage des Gesetzgebers für seine
Zielvorstellungen) führt verfassungsrechtlich zur
Verfassungswidrigkeit der hier unter Strafe
gestellten Einschränkung der Entfaltung der freien
Persönlichkeit.
(2) Aber selbst wenn davon ausgegangen wird, daß die
vom Gesetzgeber angenommenen Ausgangsbedingungen
noch immer zutreffen bzw. im Kern noch richtig
sind, so trifft es nicht zu, daß es dem Gesetz-
geber mit dem Mittel des Strafrechtes gelungen
ist, den Konsum und Verkehr mit Cannabisprodukten
zu kontrollieren. Das Mittel des Strafrechts ist
ungeeignet, das gesetzgeberische Ziel zu
----------
erreichen.
-58-
In dem Buch "Drogenelend" schreibt der Autor
Stephan Quensel zu der Frage, welchen Einfluß
Strafandrohung und tatsächliche Gefahrenrisiken
auf die Art und das Ausmaß des Konsums haben.
folgendes (Quensel, Drogenelend, a.a.O., Seite 303
Fußnote 79): "Wie wenig auch sonst die Tatsache
und Höhe der Strafandrohung, der tatsächlichen
Gefahrenrisiken der Droge und Art wie Ausmaß des
Konsums miteinander zusammenhängen müssen, zeigt
die Zunahme des Heroinkonsums trotz Gefährlichkeit
und Strafrisiko, das Stagnieren von Alkohol- und
Zigarettenkonsum bei Jugendlichen trotz Straf-
losigkeit und der Rückgang des
Amphetamin-Speed-Mißbrauchs trotz Straflosigkeit
wegen seines hohen Gefahrenpotentials in Kanada
(Final Report 1973, Seite 114), vgl. auch Hasleton
(1979, Seite 133) und Logan (1980, Seite 339)."
Ouensel verweist in diesem Zusammenhang auf
Studien, die belegen, daß der Cannabiskonsum
gleichermaßen in den Ländern stagniert, die ihre
Sanktionen weiter verschärft haben, wie auch in
solchen Ländern, die Bestrafung erheblich zurück-
genommen haben (vgl. Quensel, Drogenelend, a.a.O.,
Seite 79 m.w.N.). Er zieht daraus den Schluß, daß
eine entsprechende Rücknahme der Bestrafung kaum
zum Anstieg des Konsums führen wird und meint, daß
der Anstieg, das Stagnieren sowie der Rückgang des
Cannabiskonsums nicht durch die Kriminalpolitik
selbst beeinflußt werde. Er steht vielmehr auf dem
-59-
Standpunkt, daß dies in sehr viel deutlicherer
Weise von Mode-, Werbungs-und Kultur-Einflüssen
abhängig sei (vgl. Quensel, Drogenelend, a.a.O.,
Seite 79).
Wörtlich führt er hierzu aus:
"sehr schön zeigen sich diese Zusammenhänge in der
kleinen, durch die Literatur gut belegten Unter-
suchung von 95 Personen, die 1974 in Toronto wegen
Cannabis-Besitz zu verschieden hohen Strafen
verurteilt und kurz darauf interviewt wurden
(Erickson 1978). Im Gegensatz zur klassischen Ab-
schreckungsthese waren dabei diejenigen, die höher
bestraft wurden, wie auch vor allem diejenigen,
die annahmen, daß sie noch einmal erwischt würden,
eher dazu bereit, noch einmal Cannabis zu konsu-
mieren (Seite 140); dies gilt auch im
Folgeinterview nach einem Jahr: Obwohl 26 % der
90 % der ein zweites Mal Interviewten erneut
bestraft wurden und sich die Gruppe ingesamt für
"krimineller" hielt als beim ersten Interview
(Erickson 1980, bespr. in Druglink Nr. 16, Seite
20). Die weitaus stärkere Abhängigkeit dieser Ent-
scheidung vom jeweils sozio-kulturellen Kontext
der Bestraften -der, in gleichsam umgekehrter
Richtung, ebenfalls durch die Strafe bestimmt
wird- erwies sich darin, daß im ersten Interview
-60-
vor allem diejenigen weiterrauchen wollten die
dies schon vor der Bestrafung häufiger getan und
die in jüngerer Zeit damit begonnen hatten, sowie
diejenigen die ihrerseits Freunde hatten die
wegen derselben Tatsache schon einmal bestraft
worden waren. Auch Nesdale (1980) fand in seiner
experimentellen Studie daß für Drogengebraucher
insgesamt geplante gesetzliche änderungen keinen
Einfluß hatten, und das umgekehrt sogar die nicht
Drogen gebrauchenden Männer einen gelegentlichen
Drogengebrauch eher richtig fanden wenn ein ver-
bietendes Gesetz zu erwarten war.
Für die grundsätzliche Wirkungslosigkeit der
Strafandrohung auf das Konsumverhalten sprechen
auch die bereits dargestellten Schätzungen über
die Anzahl der Cannabiskonsumenten. Bei Körner
(a.a.O., Einl.S.9) findet sich folgende Beschrei-
bung der Deutschen,Drogenszene auf das Jahr 1988
bezogen:
"in der Bundesrepublik Deutschland sind ca. 3 bis
4 Mio. Cannabisabhängige bekannt. Ca. 80.000 sind
Abhängige harter Drogen wie Heroin, Kokain,
Amphetamin. Jährlich erhöhen sich kontinuierlich
die beschlagnahmten Mengen an Rauschmitteln. Die
-61-
Anzahl der Drogentoten hat zunehmende Tendenz.
1988 waren es 673 Tote.... Die Drogenkriminalität
ist kaum mehr in den Griff zu bekommen, Dabei
überrascht, daß trotz Aidsgefährdung und öffent-
licher Diskussion der Spritzeninfektion die Zahl
der neuen Heroinkonsumenten nicht abnahm, sondern
noch anstieg, also keine abschreckende Wirkung
entfaltete. Dies wird erklärt mit einer sich
ausbreitenden Neigung, sich ungehemmter dem
Drogenmißbrauch hinzugeben. Der Konsument ent-
scheidet sich für eine "sweet Short Life"- Lebens-
Perspektive (Berger/Rollband/Widlitzek), Bei der
Drogenarbeit geht es deshalb nicht mehr nur um die
Behandlung der Drogensucht, sondern auch um die
Aidsepidemie....
Die Bundesrepublik ist zu einer Gesellschaft von
Süchtigen geworden. Die Drogenszene ist ein
Spiegelbild dieser Gesellschaft."
Der Hamburger Drogenbeauftragte Horst Bossong hat
in einem mit der TAZ geführten Interview (TAZ v.
18.09 1991) erklärt: "Wir haben jetzt 20 Jahre
lang eine Drogenpolitik mit vergleichsweise
niedrigen Erfolgen und mit sehr hohen Negativfol-
gen gemacht. Wir sind in den 20 Jahren, in denen
das Drogenproblem so massiv wurde, mit dem Betäu-
bungsmittelgesetz nicht ein Stückchen weitergekom-
men. Das Gesetz zielt ja darauf ab, den Konsum und
Verkehr mit Drogen zu kontrollieren. Wir haben
aber keinen vergleichbaren Bereich, wo wir trotz
Gesetz so wenig Kontrolle über Handel und Konsum
haben wie im Betäubungsmittelbereich... Ich
-62-
glaube, wir werden uns langfristig darauf
einstellen müssen, das Menschen Drogen nehmen, Das
worauf wir uns nicht einstellen müssen, ist das
Drogenelend. Aber um das zu beseitigen, wird man
in Richtung Legalisierung denken müssen, denn
sonst werden wir uns auch langfristig mit dem
Drogenelend abfinden müssen. Wenn wir akzeptieren,
die Drogensucht als einen Moment der Wirklichkeit
wahrzunehmen, können wir vielleicht den Blick
dafür öffnen, daß es auch Wege gibt, mit diesen
Menschen human umzugehen. Konkret heißt das nicht
nur die kontrollierte Abgabe von Heroin. Das ist
nur der erste Schritt. Langfristig müssen wir wohl
noch viel weiter gehen, denn es gibt keinen
Anhaltspunkt dafür, daß wir die Probleme mit
Verboten und Sonderregularien in Griff bekommen."
In dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur änderung
des Betäubungsmittelgesetzes heißt es in der
Begründung (Drucksache 12/934, 12. Wahlperiode,
Seite 5):
"Trotz allgemein verstärkter Anstrengungen aller
beteiligten Institutionen, Einrichtungen und
Personen ist es bislang nicht gelungen, auf der
Grundlage der gegenwärtigen Konzeption des Betäu-
bungsmittelrechts die weitere Ausbreitung des
Betäubungsmittelmißbrauchs in der Bundesrepublik
Deutschland entscheidend aufzuhalten oder gar
wirksam zu bekämpfen, Stattdessen ist z.B. zu
-63-
beobachten, daß -offensichtlich nach Sättigung des
Nordamerikanischen Marktes-Betäubungsmittel
verstärkt auf dem europäischen Markt drängen, die
in der Vergangenheit eine eher untergeordnete
Rolle gespielt haben (z.B. Kokain). Diese Ent-
wicklung gibt Veranlassung, das bestehende
Betäubungsmittelrecht einer Überprüfung zu unter-
ziehen und Vorschläge zu seiner Fortentwicklung
vorzulegen."
Der Senat der Hansestadt Hamburg hat in einer
Mitteilung an die Bürgerschaft im Rahmen eines
Konzeptes zur Drogenbekämpfung (Bürgerschaft der
Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 13/5196,
13. Wahlperiode, Seite 16) folgendes ausgeführt:
"Mit polizeilichen und strafjustiziellen Maßnahmen
ist es trotz ständiger personeller Verstärkung der
Strafverfolgungsbehörden nicht gelungen, die
illegale Einfuhr und den Handel mit Drogen ent-
scheidend einzugrenzen und die Nachfrage auf einem
geringen, Niveau zu halten, Die festzustellende
-------------------
Stagnation des Modekonsums weicher Drogen wie
---------------------------------------------
Cannabis ist nicht auf repressive Maßnahmen
-------------------------------------------
zurückzuführen."
--------------
-64-
Diese Aussagen von Experten die sich intensiv mit
den Auswirkungen der gegenwärtigen Drogenpolitik
und der darauf fußenden Gesetze auseinandergeserzt
haben können nicht ignoriert werden. Das Versagen
der repressiven Drogenpolitik -orientiert an der
gesetzlichen Zielvorstellung Konsum und Verkehr
mit dem Mittel des Strafrechts zu kontrollieren-
ist offensichtlich. Wenn die Politik -aus welchen
Gründen auch immer- hiervor die Augen verschließt,
so können das die Gerichte angesichts ihrer
Verpflichtung die Verfassung zu achten und
anzuwenden (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht. Sie müssen
sich mit den praktischen Auswirkungen der Gesetze
auseinandersetzen und unter Berücksichtigung
sachverständiger Ausführungen prüfen, ob die
angewendeten Mittel geeignet sind, den angestreb-
ten Zweck zu erreichen.
Die vorgenannten Aussagen von Fachleuten beziehen
sich auf das Betäubungsmittelgesetz insgesamt. Bei
den Cannabisprodukten ist unter dem Gesichtspunkt
der Geeignetheit des Mittels (hier Strafandrohung)
noch auf folgendes hinzuweisen:
Die Bestrafung von Cannabiskonsumenten ist nach
Überzeugung der Kammer sogar kontraproduktiv und
dazu angetan. die Anzahl der Konsumenten zu
erhöhen. Sowohl in den Niederlanden als auch in
Italien und in manchen Staaten der USA hat die
faktische Entkriminalisierung des Besitzes und
Konsums von Cannabis nicht zu einer Ausweitung des
-65-
Konsums geführt. Vielmehr ist der Konsum in diesen
Ländern zurückgegangen. Der niederländische Straf-
rechtsprofessor Dr. C. F. Rüter hat am 20. Juni
1991 in Amsterdam anläßlich einer Fachdiskussion
mit Juristen aus Schleswig-Holstein in einem
Referat, dessen insoweit maßgeblicher Inhalt in
der, Hauptverhandlung erörtert worden ist, darge-
legt, daß sich die Zahlen der Konsumenten von
Cannabisprodukten seit der faktischen Entkri-
minalisierung im Jahre 1976 deutlich zurückge-
bildet hätten. Im Jahre 1976 hätten 10 % der
18-jährigen Niederländer Cannabis konsumiert, 1984
dagegen nur 4,2 %. Die neuesten Zahlen aus dem
Jahre 1990 hätten einen Cannabiskonsum von ledig-
lich 2 % ergeben.
In den bereits zitierten Mitteilungen des Hambur-
ger Senats zu einem Konzept zur Drogenbekämpfung
heißt es (a.a.O., Seite 17):
"Zwar hat die faktische Entkriminalisierung des
Besitzes und Konsums von Cannabis zum Eigenver-
brauch und des Kleinhandels in den Niederlanden,
in Italien und in manchen Staaten der USA dortigen
Berichten zufolge nicht zu einer Ausweitung des
Konsums geführt. Man hat dort eher den Eindruck,
daß der Verlust des Reizes des Verbotenen und des
Symbolwertes für eine alternative Kultur eher das
Interesse der jungen Leute an dieser Droge ver-
ringert hat".
-66-
Der Sachverständige Dr. Barchewitz hat, mit diesen
Feststellungen und Bewertungen konfrontiert,
erklärt, daß eine solche Erklärungsalternative
sehr naheliegend sei. Es sei eine Erfahrungstat-
sache, daß der Reiz des Verbotenen -insbesondere
wenn mit der Einnahme des verbotenen Mittels nur
eine relative Gefährlichkeit einhergeht-psycholo-
gisch eher einen Anreiz als eine abschreckende
Wirkung erzeuge. Dies korrespondiere mit der
soziologischen Beobachtung, daß Cannabis das
Immage als "Protestdroge" der Jugend habe bzw.
gehabt habe (vgl. Christian von
Wolffersdorff-Ehlert, in Scheerer-Vogt, a.a.O.,
Seite 374), Insbesondere in den Zeiten der
Hippiebewegung in den USA habe Marihuana eine
gesellschaftssymbolische Rolle eingenommen und als
Protestsymbol gewirkt (vgl. Christian von
Wolffersdorff-Ehlert, Seite 313 ff., insbesondere
Seite 376).
Im nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan der
Bundesregierung findet sich im Rahmen einer
Situationsanalyse ein weiteres Argument dafür, daß
die Bestrafung des Drogenkonsums ohne Einfluß auf
den Einstieg oder den Ausstieg aus dem Drogenkon-
sum ist. Für den Bereich des Ausstiegs bzw. der
Beendigung des Drogenkonsums heißt es in einer
Situationsanalyse (nationaler Rauschgiftbe-
kämpfungsplan der Bundesregierung 1990, Seite 13):
-67-
Als Grund für die Beendigung des Drogenkonsums
ist nach wie vor die Aussage, "Ich wollte das
Mittel einmal kennenlernen, aber jetzt weiß ich
Bescheid", mit 65 % am stärksten vertreten. Die
Aussage "die Wirkung entspricht nicht den Erwar-
tungen" ist von 19 auf 27 % gestiegen."
Diese Umfrage belegt, daß zumindest für die Frage
der Beendigung des Drogenkonsums eine mögliche
Bestrafung keine relevante Rolle spielt. Die
Kammer geht daher davon aus, daß dies -von Einzel-
fällen abgesehen- grundsätzlich auch für den
Einstieg in den Drogenkonsum gilt.
Nach alledem steht zur Überzeugung der Kammer
fest, daß die hier unter Strafe gestellte Hand-
lungsalternative des Betäubungsmittelgesetzes
-selbst bei unterstellter Gefährlichkeit der
Cannabisprodukte- nicht geeignet ist, den Konsum
und Verkehr mit diesen Produkten unter Kontrolle
zu bringen.
(3) Nach Auffassung der Kammer ist die Bestrafung auch
----------
nicht erforderlich, um Konsum und Verkehr von Be-
------------
täubungsmittel zu regulieren. Dies gilt zumindest
nach Überzeugung der Kammer für die Kontrolle und
den Verkehr von Cannabisprodukten, Im Hinblick auf
die nur relative Gefährlichkeit der Cannabispro-
dukte ist eine Bestrafung nicht erforderlich, um
-68-
die Restgefährlichkeit in einer für den Einzelnen
ausreichenden Weise zu verdeutlichen. Hier reicht
nach Auffassung der Kammer eine entsprechende Auf-
klärung als weniger einschneidende Maßnahme aus.
Daneben könnte der Gesetzgeber -als milderes
Mittel im Verhältnis zur Strafandrohung die
Abgabe von Cannabisprodukten über eine ärztliche
Verordnung regeln. Damit wäre zunächst die Mög-
lichkeit gegeben, den Cannabiskonsumenten im
Rahmen der ärztlichen Verordnung zu beraten. Durch
eine apothekenpflichtige Abgabe wäre der Cannabis-
konsument zudem gegen eine Versetzung des Stoffes
geschützt. Darüber hinaus könnte in einem Bei-
packzettel auf die speziellen Risiken und Unver-
träglichkeiten hingewiesen werden.
Nach Auffassung der Kammer wären diese Maßnahmen
-allein oder im Verbund- als mildere Mittel (im
Verhältnis zur Scrafandrohung) ausreichend um der
hier festgestellten Restgefährlichkeit der
Cannabisprodukte in angemessener Weise Rechnung
zu tragen. Eine Bestrafung ist nicht erforderlich.
um dieser Restgefährlichkeit wirkungsvoll begegnen
zu können.
Ist die Bestrafung nicht erforderlich im Sinne des
Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dann ist sie mit
Artikel 2 Absatz 1 GG unvereinbar.
-69-
(4) In jedem Fall ist die Bestrafung derjenigen, die
Cannabisprodukte lediglich zum Eigenverbrauch er-
werben oder besitzen oder die (wie vorliegend)
Cannabisprodukte in einer Menge abgeben, die
lediglich dem Eigenverbrauch dienen unverhältnis-
-------------
mäßig, d.h. sie steht von ihrer Zielrichtung her
-----
in keinem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht
und der Bedeutung des hier berührten Grundrechts
auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß
Artikel 2 Absatz 1 GG (vgl. oben S. 48 ff) Hierzu
gelten im einzelnen folgende Überlegungen:
(a) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist u.a. dann
-----------------------------
verletzt, wenn sich bei einer Saldierung zwischen
den Konsequenzen und Auswirkungen des eingesetzten
Mittels im Hinblick auf den verfolgten Zweck
ergibt, daß die Schäden, die mit dem verwendeten
Mittel eintreten, größer sind als der dadurch
erzielte Nutzen. Im Rahmen einer solchen
Schaden-Nutzen-Analyse ergibt sich sowohl unter
spezialpräventiven als auch unter general-
präventiven Gesichtspunkten folgende Bilanz einer
strafbewährten Repressionspoliti (Auszug aus dem
Bericht der Enquete-Kommission "Bekämpfung der
Drogensucht"; Bürgerschaft der Freien und Hanse-
stadt Hamburg, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/7700
Seite 65):
-70-
"Die spezialpräventive Bilanz
Was vor allem die jugendlichen Konsumenten illegaler
Drogen angeht, sind eher kontrapräventive Effekte zu
befürchten:
- Konsumenten illegaler Drogen haben in der Regel kein
Schuldbewußtsein und empfinden sich nicht als straf-
würdige, Dritte schädigende Täter. Die Strafbedrohung
und -verfolgung wird daher oft als ungerechte
Reglementierung abgelehnt und ignoriert.
- Die gesetzlichen Konsumverbote einer Gesellschaft, die
sonst die Freiheit des Konsumenten beschwört und den
auch exzessiven und im Falle von Nikotin auch Dritte
(Passivraucher) schädigenden Konsum legaler Drogen
billigt und zu ihm animiert wird als
doppelmoralischer ungerechtfertigter Eingriff in die
persönliche Autonomie erlebt und mißbilligt.
- Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Attrak-
tivität des Verbotenen eine verführerische Aufforde-
rung zum Weitermachen mit sich bringt.
- Die Kriminalisierung des Drogenkonsumenten beschert
nicht wenigen von ihnen schon im Probierstadium früh-
zeitige Stigmatisierungen und Ausgrenzungen.
- Sie verhindert über die Verbreitung von Angst vor
Entdeckung und Bestrafung die Artikulation von Hilfs-
bedürfnissen und die Wahrnehmung von Hilfen seitens
Drogengefährdeter und- abhängiger. Sie erschwert so
-71-
gegebenenfalls notwendige helfende Aufmerksamkeit oder
integrierende Fürsorge der familiären, schulischen,
beruflichen und sonstigen sozialen Umgebung.
- Sie kann schließlich einen sich wechselseitig
verstärkenden eskalativen Prozeß von zunehmender
Identifizierung mit der Außenseiterrolle und dem
subkulturellen Drogenmilieu einerseits und von fort-
schreitender gesellschaftlicher Desintegration
andererseits provozieren und so ein Abgleiten in die
Drogenabhängigkeit noch befördern.
Drogenabhängige sind nach Auffassung vieler Experten auch
der Hamburger Justizbehörde durch Strafverfolgung und Re-
strafung nur in seltenen Fällen zur dauerhaften Abstinenz
zu bewegen. Zahlreiche Untersuchungen belegen:
- Mit Hilfe justizieller Therapieauflagen konnte eine
höhere Therapieeffizienz offenbar nicht erreicht
werden. Unter justiziellem Druck aufgenommene Entzugs-
und Entwöhnungshilfen werden oft als überwiegend
fremdbestimmte und die eigene Autonomie verletzende
Eingriffe abgewehrt, abgebrochen bzw. unzureichend ge-
nutzt.
- Die soziale und berufliche Wiedereingliederung vorerst
rückfälliger Klienten von Entgiftungs- und Therapie-
einrichtungen wird durch die Kriminalisierung der
Rückfälle massiv beeinträchtigt.
-72-
Die Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung
--------------------------------------------
Statt zu general- und spezialpräventiven Erfolgen hat der
drogenpolitische Kurs der massiven Kriminalisierung der
Drogenkonsumenten vor allem bei den Abhängigen von soge-
nannten harten Drogen zu einer die Misere der
Abhängigkeit noch verschärfenden enormen körperlichen
psychischen und sozialen Verelendung geführt.
Das durch das Strafverfolgungsrisiko immer noch hochge-
haltene Preisniveau hat insbesondere die Heroinabhängigen
vielfach in Beschaffungskriminalität, -prostitution und
Beschaffungsanstrengungen getrieben bei denen häufig
kein Raum mehr für die Aufrechterhaltung von nicht durch
Drogen bestimmten Aktivitäten und sozialen Beziehungen
bleibt. Die mit der Kriminalisierung verbundenen stigma-
tisierenden und ausgrenzenden gesellschaftlich Reaktionen
haben nicht selten den Verlust von familiären Bindungen,
Freundschaften ,von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zur
Folge, d.h. soziale Desintegration und Deklassierung.
Der Rückgriff vieler Heroinabhängiger bei Finanzierungs-
und Versorgungsengpässen auf Alkohol, Barbiturate oder
andere in Kombination mit Opiatkonsum nicht selten
lebensgefährlicher Ausweichdrogen ist oft indirektes
Resultat der Kriminalisierung, die zu Angebotsverknappung
oder Preiserhöhung führt. Die durch die Illegalisierung
hochgetriebenen Profitchancen für Heroinhändler animiert
diese immer wieder zu bisweilen lebensgefährlichen Stoff-
streckungen bzw. Beimischungen, Ein nicht unerheblicher
Anteil der Drogentoten dürfte auf diese Umstände zurück-
zuführen sein.
-73-
Die ständige Angst vor Entdeckung, Ablehnung und Bestra-
fung hat im Zusammenspiel mit dem bereits aufgezählten
Auswirkungen der Kriminalisierung den subjektiven und
objektiven Spielraum vieler Abhängiger für elementare
Selbstfürsorge und hygienische Vorsicht im Lebenswandel
(Essen, Bekleidung, Körperpflege) und bei Drogenkonsum,
z.B. was die Vermeidung von Aidsinfektionen, Abszessen
etc. betrifft, angeht, enorm eingeengt. Diese Angst hält
nicht selten Drogenabhängige davon ab, auch dringend er-
forderliche ärztliche oder psychosoziale Hilfe aufzu-
suchen. Sie fördert auch soziale Rücksichtslosigkeit wie
Drogenkonsum in den Grünanlagen von Parks und
Kinderspielplätzen oder dort das Wegwerfen von gebrauch-
ten Spritzbestecken zur Entledigung von strafrechtlich
verwertbaren, belastendem Beweismaterial.
Vor dem Hintergrund der general- und spezialpräventiven
Ineffektivität bis Kontraproduktivität der Kriminalisie-
rung der Drogenkonsumenten ist die Repression gegenüber
den Drogenkonsumenten aus ethisch-humanitärer Sicht nicht
mehr zu verantworten, Dafür sprechen auch die hohe ge-
sellschaftliche Belastung durch das beschaffungskriminel-
le Verhalten vieler Drogenabhängiger und die hohen ge-
sellschaftlichen Kosten, die die Kriminalisierung der
Konsumenten und die Folgen der Kriminalisierung mit sich
bringen." (Ende des Zitats)
-74-
Die Kammer hat den Sachverständigen die vorgenannten
Zitate vorgehalten. Beide haben sich vorbehaltlos hinter
diese Aussagen gestellt. Dabei kommt der Aussage des
Sachverständigen Dr. Barchewitz aufgrund seiner prakti-
schen Erfahrung eine besondere Überzeugungskraft zu. Die
Kammer hat im Rahmen der Erörterungen mit dem Sach-
verständigen keine Argumente gefunden, die diese er-
schreckende Schaden-Nutzen-Bilanz in Frage stellen
könnten, Die Kammer ist der Auffassung, daß diese ein-
leuchtenden und nachvollziehbaren Argumente für sich ge-
sehen schon ausreichend sind, festzustellen, daß die
Bestrafung von Handlungsweisen, die auf die Befriedigung
des Eigenkonsums abzielen, verfassungsrechtlich wegen
Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot im Rahmen
des Art. 2 Absatz 1 GG nicht haltbar ist - unabhängig von
der Frage ob es sich hierbei um "weiche" oder "harte"
Drogen handelt.
Dies gilt um so mehr, als der Sachverständige Dr.
Barchewitz ausgeführt hat, daß Drogenabhängige als krank
im medizinischen Sinne anzusehen sind. Einen kranken
Menschen, dessen Ausgangspunkt für die Erkrankung sich
schon meist in einer sozialen oder sonstigen seelischen
Notlage findet, mit der Bestrafung noch weiter in
seelische und persönliche Nöte zu treiben, stellt einen
Verstoß gegen das rechtstaatliche übermaßverbot dar.
Wenn ein Drogenabhängiger krank ist, dann muß die staat-
liche Politik dafür Sorge tragen, daß er von, dieser
Krankheit geheilt oder ihm zumindest Linderung verschafft
wird.
-75-
Die Kriminalisierung von Kranken ist jedoch kein Mittel
der Gesundheitspolitik Kranke werden nicht geheilt, wenn
man sie bestraft oder in den Strafvollzug steckt.
Vielmehr werden sie durch die dadurch entstehende Krimi-
nalisierung über die Krankheit hinaus sozial geschädigt.
Es ist inhuman, Personen, die ohnehin schon aus erheb-
lichen persönlichen Nöten oder sonstigen Lebensdefiziten
zu Drogen greifen, über die bisherige Not hinaus in
weitere Not zu stürzen, indem man sie in die Gefängnisse
bringt. Abgesehen davon, daß hierdurch eine zukünftige
Reintegration wegen der Vorstrafe und der damit verbun-
denen sozialen Abstempelung erheblich erschwert wird,
werden sie in den Vollzugsanstalten noch tiefer in ihre
Drogenproblematik verstrickt. In allen Justizvollzugsan-
stalten sind Drogen erhältlich. Die Gefahr einer Aidsin-
fektion wächst erheblich. Manche Strafgefangene führen
sogar Kugelschreiberminen in die Venen ein, um sich so
einen "schuß" zu setzen. Dieses Elend ist ein Ergebnis
der Verbotspolitik. Sie ist mit dem rechtsstaatlichen
Grundsatz des Verhältnismäßigkeitsgebotes unvereinbar.
Letztlich ist im Rahmen der vorliegend angestellten
Schaden-Nutzen-Analyse auch zu berücksichtigen, ob die
hier festgestellte Restgefährlichkeit der
Cannabisprodukte den Aufwand rechtfertigt, den Polizei
und Justiz leisten müssen, um Cannabiskonsumenten zu
verfolgen. Bundesweit wurden z.B. im Jahre 1989 94.000
Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz registriert
-76-
(vgl. Jahrbuch Sucht 1991, a.a.O., S. 37, 49). Hiervon
entfielen 33.251 Verstöße auf den Cannabiskonsum (vgl.
Jahrbuch Sucht 1991, a.a.O., S. 49). Im Hinblick auf die
hier festgestellte geringe Gefährlichkeit der Cannabis-
produkte erscheint es unverhältnismäßig, weiterhin die
ohnehin sehr knappen Ressourcen von Polizei und Justiz zu
vergeuden, um Cannabiskonsumenten zu verfolgen. Nach den
Feststellungen der Hamburger Justizbehörde sind die
Ressourcen der dortigen Staatsanwaltschaft durch
Bagatellverfahren gegen Drogenkonsumenten in Höhe von 20
% gebunden (vgl. Bericht der Enquetekommission
"Bekämpfung der Drogensucht", a.a.O., Seite 65). Die
dadurch gebundenen Ressourcen der Justiz könnten
zweckmäßiger im Kampf gegen Rauschgifthändler,
Wirtschafts- und Umweltkriminelle eingesetzt werden.
(b) Nach Auffassung der Kammer verstößt es weiterhin gegen
den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn der Gesetz-
-----------------------------
geber "weiche" und "harte" Drogen auf eine Stufe
stellt obwohl unter dem Gesichtspunkt der Gefähr-
lichkeit eine offensichtliche qualitative Unter-
scheidung vorzunehmen ist.
-77-
Es wurde bereits dargelegt, daß Cannabisprodukte
lediglich eine relative und nicht dringende bzw.
ernstliche Gefährdung menschlichen Lebens darstellen.
"Harte" Drogen wie Kokain und Heroin entfalten hin-
gegen eine qualitativ andere Wirkung. Während bei
Haschisch kein Todesfall bekannt ist, betrug die
Anzahl der Drogentoten, die Heroin und Kokain konsu-
miert haben, im letzten Jahr ca. 2.000. Darüber hinaus
führt der Konsum von Kokain und Heroin zu einer
körperlichen Abhängigkeit und in vielen Fällen auch
zur sozialen Verelendung, Auch die Aidsgefahr ist
wegen der Applikationsform des Spritzens bei
Heroin-und Kokainabhängigen naheliegend, während sie
bei den Cannabisprodukten nicht gegeben ist. Im
Hinblick darauf, daß Eingriffe in elementare Bereiche
der freien Entfaltung der Persönlichkeit nur dann
gerechtfertigt sind, wenn hierfür ausreichende und
gewichtige Gründe vorliegen und das Strafrecht als
"ultima ratio" des Staates zu einer weiteren Einengung
des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes führt,
ist die Strafrechtliche Gleichsetzung von weichen und
harten Drogen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar.
Der Gefährlichkeitsgrad für den einzelnen ist so
Signifikant unterschiedlich, daß es unter dem Ge-
sichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verfassungsrecht-
lich geboten ist, diese qualitative Abstufung auch
gesetzgeberisch zum Ausdruck zu bringen. Dies wäre
z.B. dadurch möglich gewesen, die sich auf den
Cannabiskonsum beziehenden Handlungsweisen als Ord-
nugswidrigkeitentatbestände einzustufen.
-78-
(c) Des weiteren ist es nach der Überzeugung der Kammer
unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten unver-
------
hältnismäßig, wenn der Gesetzgeber es unterläßt, die
------------
verschiedenen Handlungsalternativen, die eine Straf-
barkeit nach dem Betäubungsmittelgesetz begründen, zu
differenzieren. Unter Berücksichtgigung der nur
relativen Gefährlichkeit der Cannabisprodukte ist es
nach Auffassung der Kammer unverhältnismäßig, das
Handeltreiben in größeren Mengen sowie die Einfuhr in
größeren Mengen ebenso mit Strafe zu bedrohen wie den
bloßen Besitz einer Konsumeinheit oder Handlungen, die
-wie im vorliegenden Fall- lediglich darauf abzielen,
ohne Gewinnabsicht den Besitz an einer einzigen
Konsumeinheit zu verschaffen.
Berücksichtigt man die Aussagen der Sachverständigen,
die die Kammer gehört hat, wonach der gelegentliche
Konsum von Cannabisprodukten genau so ungefährlich ist
wie der gelegentliche Schluck Wein, dann fragt sich,
welche Legitimation der Gesetzgeber hat, eine solche,
für den Einzelnen erkennbar ungefährliche Verhaltens-
weise mit dem schärfsten Mittel staatlicher Sanktion
-nämlich dem Strafrecht- zu bekämpfen. Der Staat hat
nach unserer Verfassung nicht das Recht, mit dem
Mittel des Strafrechts seinen Bürgern ein vernünftiges
und den Einzelnen in keiner Weise schädigendes Ver-
halten vorzuschreiben. Es erscheint selbstverständ-
lich, daß der Staat seinen Bürgern z.B. nicht - und
schon gar nicht mit den Mitteln des Strafrechts
vorschreiben darf, während der Winterzeit nur mit
Mantel und Hut oder Mütze auf die Straße zu gehen. Ein
solches Gebot erscheint abwegig, obwohl das Gemein-
-79-
wesen hierfür gute Gründe anführen könnte: Vorkehrung
gegen grassierende grippale Infekte, die die Ge-
sundheit des Einzelnen erheblich schwächen und die
Kraft der Volkswirtschaft schmälern könnten. Es ließe
sich auch daran denken, daß der Staat seinen Bürgern
vorschreibt, gesundheitsbewußt zu leben und insbeson-
dere solche Lebensmittel zu meiden, die die Gesundheit
gefährden können (z.B. Süßstoffe).
Es ließen sich noch weitere Beispiele bilden, bei
denen unmittelbar erkennbar ist, daß der Staat gerade
im Hinblick auf das Recht der freien Entfaltung der
Persönlichkeit nicht das Recht hat - insbesondere mit
dem Mittel des Strafrechts -, Verhaltensweisen, die
den Kern menschlicher Selbstbestimmung zuzurechnen
sind, allein deswegen zu unterbinden, weil sie den
Einzelnen schädigen. Es muß grundsätzlich der Ent-
scheidung des Einzelnen anheimgestellt werden, ob er
die mit seinem Verhalten verbundenen Eigenschädigungen
hinnehmen will oder nicht.
Der oberste Gerichtshof des Bundesstaates von Indiana
hat hierzu im Jahre 1855 im Rahmen einer Entscheidung
über die Prohibition von Alkohol folgendes ausgeführt:
-80-
"Wir sind der Meinung, daß dieser Grundsatz im vorlie-
genden Fall Anwendung finden muß, daß das Recht auf
Freiheit und das Streben nach Glück, das von der
Verfassung garantiert ist, für jeden Einzelnen das
Recht begründet, zu entscheiden, was er essen und
trinken will kurz gesagt, seine Getränke auszusuchen,
sofern er sie herstellen oder in seiner Umgebung
erhalten kann, und daß die Gesetzgebung ihm dieses
Recht nicht nehmen darf. Wenn die Verfassung den
Menschen noch nicht einmal dieses Recht sichern kann
dann schützt sie überhaupt nichts, das einigen Wert
hat. Wenn die Menschen in ihren Trinkgewohnheiten der
Gesetzgebung unterworfen sind, dann kann man sie auch
einer Kontrolle ihrer Kleidung unterwerfen und der-
jenigen Stunden,. in denen sie schlafen dürfen oder
wachsein, müssen. Und wenn die Menschen es nicht
schaffen, ihre eigenen Getränke auszusuchen, dann sind
sie genauso unfähig, irgendetwas anderes in ihrem
Leben zu entscheiden und sollten in den Zustand der
Unmündigkeit gesetzt werden und Bestellt unter die
Vormundschaft staatlicher Beamter für die Luxuskon-
trolle. Elogen auf die menschliche Würde sollten dann
unterbleiben und die Lehre von der Selbstverwaltung
als irreführender Schnörkel erklärt werden. Wenn die
Regierung alles verbieten kann, wie es ihr gefällt,
dann kann sie auch verbieten, kaltes Wasser zu trin-
ken. Kann sie das ? Wenn nicht, warum nicht ?...
Es ist also klar, wenn man dem erleuchteten Psalmisten
(Ps. 104) glauben darf, daß der Mensch geschaffen
wurde, zu lachen so gut wie zu weinen, und daß diese
anregenden Getränke vom Allmächtigen ausdrücklich
dafür ausersehen sind, um seine Heiterkeit und sein
Vergnügen in Gesellschaft zu befördern. Und für diesen
-81-
Zweck hat die Welt sie immer benutzt. Sie haben immer,
in der Sprache einer anderen Stelle der Heiligen
Schrift, starke Getränke demjenigen gegeben, der
erschöpft war, und Wein an die mit schwerem Herzen..."
(zitiert aus: Uwe Wesel, Recht und Gewalt, Berlin
1989, S. 177).
Diese klaren und überzeugenden Worte des obersten
Gerichtshofs von Indiana verdeutlichen auf welcher
Ebene des Spannungsverhältnisses zwischen den Frei-
heitsrechten des Einzelnen und der Regelungsbefug-
nissen des Staates der vorliegend zu entscheidende
Fall angesiedelt ist. Derjenige, der z.B. den streß-
bedingten Anforderungen des Alltags und der Gesell-
schaft zu entfliehen sucht und sich gelegentlich
(einmal in der Woche) zurückzieht, seinen "joint"
raucht und dabei Musik hört, wird dafür bestraft.
Dies, obwohl nach den überzeugenden Ausführungen der
Sachverständigen in solchen Fällen nicht die geringste
Gefährlichkeit für den Konsumenten besteht. Nicht
anders liegt die hier zu beurteilende Fallkonstella-
tion: Die Angeklagte hat ihrem Mann lediglich -ohne
eine irgendwie geartete Gewinnabsicht- eine Konsumein-
heit zur Verfügung gestellt, Diese Konsumeinheit hätte
dem Ehemann der Angeklagten Gelegenheit geboten, kurz-
fristig seiner tristen Gefängnisumgebung für die Dauer
des "High-Sein" zu entfliehen. Die Kammer kann in
diesem Vorgang kein irgendwie geartetes strafrecht-
liches Unrecht erkennen. Selbst wenn -entgegen den von
der Kammer gewonnenen Erkenntnissen über die Gefähr-
lichkeit des Cannabiskonsums- von einer größeren Ge-
fährlichkeit für die Gesundheit des Einzelnen auszu-
gehen wäre, so erscheint es unter dem Gesichtspunkt
des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (hier Gebot der
Differenzierung) unhaltbar, das Handeltreiben in
größeren Mengen sowie die Einfuhr in größeren Mengen
-82-
mit den hier genannten Verhaltensweisen auf eine Stufe
zu stellen, indem beide mit Strafe bedroht werden.
Diejenigen, die von einer größeren Gefährlichkeit des
Cannabiskonsums ausgehen, könnten vielleicht argumen-
tieren, daß diejenigen, die mit Gewinnabsicht durch
Handeltreiben oder Einfuhr größerer Mengen für eine
Vielzahl von anderen Personen Gefahren verursachen, zu
bestrafen wären. Sie werden aber -unter Berücksichti-
gung der verfassungsrechtlichen Ausgangsbedingungen
einen qualitativen Unterschied zwischen diesen beiden
Verhaltensalternativen einräumen müssen. Nach Auf-
fassung der Kammer führt dieser Unterschied in jedem
Fall dazu, die Fälle die lediglich auf Eigenkonsum
abzielen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßig
keit aus der Strafrechtsandrohung herauszunehmen.
Soweit der Gesetzgeber die hier offensichtlich er-
forderliche Differenzierung in die strafrechtlichen
Regulierungsmechanismen verlagert, indem er bei reinen
Konsumtaten eine erleichterte Möglichkeit des Absehens
von Strafe vorsieht (§ 29 Absatz 5 BtmG) bzw. erhöhte
Strafrahmen für den Fall des Handeltreibens oder der
Einfuhr von nicht geringen Mengen geschaffen hat, so
reicht diese Differenzierung nach Überzeugung der
Kammer in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht aus.
----------------------
In jedem Fall müssen nach Auffassung der Kammer nach
Maßgabe der dargelegten Überlegungen unter dem Ge-
sichtspunkt der Verhältnismäßigkeit Verhaltensweisen,
die lediglich darauf abziehen einen einmaligen Konsum
----------
zu ermöglichen, ganz aus der Strafbarkeitsandrohung
genommen werden.
-83-
In diesem Zusammenhang verweist die Kammer ab-
schließend darauf, daß die Rechtsprechung und auch die
verfassungsrechtliche Literatur ohne nähere Begründung
-wie Selbstverständlich-davon ausgehen, daß z.B. ein
generelles Rauch-oder Alkoholverbot verfassungswidrig
wäre (vgl. AK-Podlech, a.a.O., Art. 2 Absatz 1 Rdn.
50). Auch der bayr. Verfassungsgerichtshof hat in
einer Entscheidung vom 30. April 1987 (vgl. NJW 1987,
Seite 2922) die Auffassung vertreten, daß ein
generelles Rauchverbot mit Artikel 2 Absatz 1 Grund-
gesetz unvereinbar wäre. Berücksichtigt man die hier
bereits festgestellte Gefährlichkeit der Cannabis-
produkte, die deutlich unter den individuellen und
gesamtgesellschaftlichen Gefahren des Rauchens oder
des Alkoholgenusses liegt, dann wird die
Irrationalität des strafbewehrten Verbotes, das auch
Handlungen unterbinden will, die lediglich auf den
einmaligen Konsum abzielen, besonders deutlich.
III. Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundge-
------------------------------------------------
setz
----
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts ist der körperlichen Unversehrtheit des Men-
schen ein besonders hoher Wert beizumessen (BVerGE 16,
201 ff.; 17, 117 ff.; 27, 219, 351; 32, 379). Das in
Artikel 2 Absatz 2 GG enthaltene Grundrecht erschöpft
sich nicht nur in Abwehrrechten gegenüber dem Staat,
sondern begründet eine Schutzpflicht des Staates und
seiner Organe für das geschützte Rechtsgut, deren
Vernachlässigung von den Betroffenen mit der Ver-
fassungsbeschwerde angegriffen werden kann. In seinem
-84-
klassischen Gehalt schützt das Recht auf körperliche
Unversehrtheit vor gezielten staatlichen Eingriffen,
wie Zwangsversuchen an lebenden Menschen Zwangs-
sterilisationen und ähnlichem (vgl. BVerfGE 79, 201).
Nach Auffassung der Kammer liegt ein Verstoß gegen
Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG vor, weil der Bürger der
sich im Rahmen seines grundrechtlich geschützten
"Rechts auf Rausch" gemäß Artikel 2 Absatz 1 GG
berauschen will, durch das strafrechtliche Verbot,
Cannabisprodukte zum Eigenverbrauch zu erwerben oder
zu erlangen, in die gesundheitsschädlichere
Alternative, nämlich in den nicht strafbewehrten
Alkoholkonsum gezwungen wird. Es ist bereits dargelegt
und steht zur Überzeugung der Kammer fest, daß mit dem
Alkoholkonsum, der auf Berauschung abzielt, eine
-----------
größere Gesundheitsgefährdung verbunden ist, als der
Rauschzustand, der über die Einnahme von
-------------
Cannabisprodukten erzeugt wird. Geht man von den hier
festgestellten Gefährlichkeitsgraden der
Cannabisprodukte und des Alkohols aus, dann ergibt
sich aufgrund der unterschiedlichen Behandlungsweise
des Gesetzgebers unter dem Gesichtspunkt des Artikel 2
Absatz 2 Satz 1 folgende absurde und verfassungswi-
drige Alternative: Wer sich berauschen will, hat die
Wahl zu treffen, ob er es legal, aber gefährdeter oder
weniger schädlich, dafür aber illegal tut. Die Ver-
fassungswidrigkeit unter dem Gesichtspunkt des
-85-
Schutzes der körperlichen Unversehrtheit des Menschen
tritt hierbei offen zutage. Es ist ein mit Artikel 2
Absatz 2 Satz 1 GG nicht zu vereinbarender Tatbestand,
wenn der Gesetzgeber dem Rauschwilligen bei Strafan-
drohung untersagt, daß für seine Gesundheit erheblich
weniger schädliche Rauschmittel im Verhältnis zu
anderen legalen Rauschmittel zu nehmen.
IV. Internationale Abkommen
-----------------------
Der hier von der Kammer festgestellte Verstoß gegen
grundgesetzliche Vorschriften wird auch nicht durch
internationale Abkommen über Suchtstoffe denen die Bun-
desrepublik beigetreten ist, "geheilt". Internationale
Abkommen, bei denen die Bundesrepublik Vertragspartner
ist und die gegen unsere Verfassung verstoßen, können
keine Bindungswirkung entfalten. Sie sind wegen Verstoßes
gegen die Verfassung unwirksam (BVerfGE 12, 288; 30,
280). Deswegen kann z.B. die sogenannte Single Convention
von 1961 keine Verpflichtung für den Gesetzgeber enthal-
ten, in Ausführung dieser Vereinbarung verfassungswidrige
Gesetze zu erlassen. Dies ergibt sich nicht nur aus
unserer Verfassung selbst (Art. 20 Abs. 3 GG), sondern
auch aus der Single Convention. Dort heißt es in Artikel
36 (Strafbestimmung): "Jede Vertragspartei trifft
vorbehaltlich ihrer Verfassungsordnung...."
Die Single Convention stellt demnach die Ausführung der
in der Übereinkunft festgehaltenen Verpflichtungen aus-
drücklich unter den Vorbehalt der jeweiligen nationalen
Verfassungsordnung.
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Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang darauf hinzu-
weisen, daß die Single Convention auch nicht zur Bestra-
fung des Konsums der Stoffe zwingt, die zum Gegenstand
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der Kontrolle gemacht werden (hierzu gehören auch die
Cannabisprodukte). In Artikel 2 Absatz 5 b wird ausdrück-
lich darauf verwiesen, daß jede Vertragspartei "im
Hinblick auf die in ihrem Staat herrschenden Verhältnis-
se" das Mittel wählen darf, daß sie für am geeignetsten
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hält, um die Volksgesundheit und das öffentliche Wohl zu
schützen. Es steht danach im Belieben des jeweiligen
Vertragslandes, welches Mittel es für geeignet hält. um
den Verkehr und den Konsum mit den unerwünschten Stoffen
zu unterbinden. Dies muß nicht zwangsläufig die
Bestrafung sein. Demgemäß heißt es im Artikel 36 des
Abkommens:
".............
b) Ungeachtet des Buchstabens a können die
Vertragsparteien, wenn Personen, die Suchtstoffe
mißbrauchen, derartige Verstöße begangen haben,
entweder an Stelle der Verurteilung oder Bestrafung
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oder zusätzlich zu einer solchen vorsehen, daß diese
Personen Maßnahmen der Behandlung, Aufklärung, Nach-
behandlung, Rehabilitation und sozialen Wiederein-
gliederung nach Artikel 38 Absatz 1 unterziehen."
Diese Bestimmung belegt, daß der nationale Gesetzgeber
durch internationale Abkommen nicht gezwungen ist, mit
den Mitteln des Strafrechts Drogenkonsum zu bekämpfen.
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V. ZuSammenfassung/Verfassungskonforme Auslegung
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Nach alledem steht zur Überzeugung der Kammer
fest, daß die vorliegend zur Anwendung kommenden
Vorschriften der §§ 29 Absatz 1 Nr. 1 i.V.m. 1
Absatz 1 i.V.m. Anlage I (hier: Cannabisharz
(Haschisch)) Betäubungsmittelgesetz in der Hand-
lungsalternative des Abgebens aus den unter den
Punkten B. I.-III. aufgeführten Gründen gegen die
dort aufgeführten Grundgesetzartikel verstoßen.
äbhilfe" kann auch nicht mit dem Mittel der ver-
fassungskonformen Auslegung geschaffen werden
(vgl. dazu Zuck, Recht der Verfassungsbeschwerde,
NJW-Schriftenreihe, 2. Auflage, 1987, S. 16 Rdz.
52 m.w.N.).
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts (BVerfGE 32, 383/384; 48, 45; 54, 273/274)
ist ein Vorlageverfahren gemäß Artikel 100 Absatz
1 GG dann nicht zulässig, wenn eine
verfassungskonforme Auslegung möglich ist. Eine
solche verfassungskonforme Auslegung kommt dann in
Betracht, wenn eine auslegungsfähige Norm nach den
üblichen Interpretationsregeln mehrere Auslegungen
zuläßt, von denen eine oder mehrere mit der
Verfassung übereinstimmen, während andere zu einem
verfassungswidrigen Ergebnis führen; solange eine
Norm verfassungskonform ausgelegt werden kann und
in dieser Auslegung sinnvoll bleibt> darf sie
nicht für nichtig erklärt werden (vgl. BVerfGE 48,
45 m.w.N.).
Die hier zur Anwendung kommenden Normen des Be-
täubungsmittelrechts lassen keine verfassungskon-
forme Auslegung im vorgenannten Sinne zu. Sie sind
bei dem hier festgestellten Sachverhalt nach den
üblichen Interpretationsregeln eindeutig und er-
möglichen keine Auslegung, die zur Straffreiheit
der Angeklagten führt.
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Die Kammer hat daher das Verfahren gemäß Artikel
100 Absatz 1 GG ausgesetzt um eine Entscheidung
des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
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gez. Neskovic
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