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Plädoyer für einen wissenschaftlichen Modellversuch

Cannabispolitik: Plädoyer für einen wissenschaftlichen Modellversuch

Jens Kalke, Peter Raschke


Viele drogenpolitische Reformen in der Bundesrepublik sind in den letzten Jahren über wissenschaftliche Modellversuche durchgesetzt worden: beispielsweise die Methadonsubstitution, die sich ausgehend von einem strengen Erprobungsvorhaben in Nordrhein-Westfalen über verschiedene Modellstudien anderer Bundesländer etablieren konnte (Kalke, Verthein & Raschke 1998) oder das erste Programm zum Spritzentausch im Strafvollzug (Stöver 1999). Auch die heroingestützte Behandlung soll zunächst im Rahmen einer wissenschaftlich kontrollierten Therapiestudie erprobt werden.

Ein wesentlicher Grund für diese Modellversuche liegt darin, dass in Deutschland nach wie vor kein gesellschaftlicher Konsens besteht: weder über drogenpolitische Grundsatzfragen noch über die einzuschlagenden Wege. Viele Themen werden kontrovers diskutiert und sind politisch strittig. Dabei verlaufen die drogenpolitischen Trennungslinien nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch innerhalb von Parteien (Kalke & Raschke 1996). Diese können bisher nur selten in konsensbildenden „Runden Tischen“ überbrückt werden (Kalke & Giebel 1994). Typischer ist es, zunächst in wissenschaftlichen Modellvorhaben zu erproben, inwieweit die Pro- und Contra-Argumente mit der Realität übereinstimmen. Insofern nehmen solche zeitlich begrenzten Versuche eine „Prüffunktion“ wahr bzw. bilden sie die Grundlage, um die Kontroverse zwischen den „Lagern“ zu versachlichen und politisch entscheidbar zu machen.

Ein wesentlicher Grund für das Verbot von Cannabis liegt in Befürchtungen gesundheitlicher Schädigungen und der Sorge vor einer Konsumsteigerung von Drogen („Einstiegsthese“). Hierzu liegen inzwischen eine Reihe fundierter wissenschaftlicher Untersuchungen über die pharmakologischen Eigenschaften und Risiken von Cannabis sowie über die bestehenden Konsummuster und Konsumentengruppen vor (u.a. Kleiber & Kovar 1998, Kleiber & Soellner 1998). Sie erlauben eine realistische Einschätzung des Gefährdungspotentials von Cannabis und liefern Erkenntnisse, die die Ablehnung eines Modellvorhabens aus ethischen Gründen nicht nahelegen.
Als das zentrale Argument für das Verbot von Cannabis wird immer noch die generalpräventive Wirkung angeführt und mit der Annahme verbunden, dass bei einer (kontrollierten) Cannabisfreigabe die Konsumentenzahlen – inklusive des Gebrauches harter Drogen – ansteigen würden („Dammbruchthese“). Die niederländischen Erfahrungen mit dem Coffee-Shop-Modell sprechen aber eher dagegen und in Deutschland gab es bislang kein wissenschaftliches Projekt, bei dem die Auswirkungen einer legalen Erhältlichkeit von Cannabisprodukten auf das Verhalten (potenzieller) Gebraucher überprüft worden sind. Es besteht daher ein Erkenntnisbedarf, da die bisherigen Grundlagen des Cannabisverbotes von wissenschaftlicher Seite her stark in Zweifel gezogen worden sind.
Es ist weit und breit weder ein politischer noch ein gesellschaftlicher Konsens zu erwarten, um in Deutschland den von der Schweiz eingeschlagenen Weg einer Gesetzesänderung, mit der der Konsum, Besitz, Erwerb und Anbau von Cannabisprodukten zum Eigenbedarf straffrei gestellt werden soll, gehen zu können. Dieses „direkte“ Vorgehen scheint aufgrund der hiesigen drogenpolitischen Konstellation und der internationalen Verträge zumindest kurz- bis mittelfristig nicht kopierbar zu sein. Das belegen auch die nach wie vor stark polarisierten Diskussionen zur Cannabisfrage, die schnell den Charakter polemischer Diffamierungen annehmen können (Kreutzfeldt & Schmidt 1997). Daher ist die Durchführung eines Modell-vorhabens das gegebene Mittel der Wahl.

Als einen Vorschlag, wie ein wissenschaftlicher Modellversuch aussehen könnte, soll im folgenden das schleswig-holsteinische Cannabisprojekt vorgestellt werden (siehe zu Einzelheiten Raschke und Kalke 1997). Das Sozialministerium des Landes Schleswig-Holstein hatte im Jahr 1997 den Vorschlag gemacht, Cannabis unter kontrollierten Bedingungen in Apotheken abzugeben. Damit sollten die Drogenmärkte getrennt und die Suchtprävention verbessert werden.

Rechtlicher Hintergrund
Ausgangspunkt des Modellvorhabens war das sogenannte „Haschisch-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1994. Darin wird der Gesetzgeber aufgefordert, zu überprüfen, inwieweit die Freigabe von Cannabis zu einer Trennung der Drogenmärkte führen und damit zur Eindämmung des Betäubungsmittelkonsums beitragen kann. Eine Gemeinsame Konferenz der Gesundheitsminister der Bundesländer beschloss daraufhin, einen Modellversuch zur Trennung der Drogenmärkte anzustreben. Das Land Schleswig-Holstein erklärte sich bereit, das Pilotvorhaben im Detail zu konzipieren und durchzuführen. Eine Expertenkommission des Kieler Sozial- und Justizministeriums kam zu dem Ergebnis, dass ein solcher Versuch am ehesten auf der Grundlage des geltenden Betäubungsmittelrechtes zu realisieren wäre. Diesem Vorschlag vorausgegangen war eine intensive Diskussion in der Expertenkommission, die verschiedene Möglichkeiten der Entkriminalisierung und kontrollierten Abgabe von Cannabis prüfte. Im Gespräch war zuerst ein sogenanntes „§ 31b-Modell“, das ein Absehen von der Strafverfolgung bei der Abgabe durch staatlich genehmigte Stellen vorsah – eine Art deutsche Coffee-Shop-Lösung, die aber nicht auf dem niederländischen Opportunitätsprinzip, sondern auf einer Ausnahme vom deutschen Legalitätsprinzip fußte. In einem anderen Modell wurde die Umstufung von Cannabisprodukten aus der Anlage I des Betäubungsmittelgeset-zes in eine neue Anlage IV in Erwägung gezogen, mit der Möglichkeit diese Stoffe über Apotheken abzugeben. Nach einer rechtlichen Bewertung wurden aber beide Lösungen als mit internationalen Verträgen unvereinbar verworfen (Köhler 1996).
Die Expertenkommission empfahl deshalb, einen wissenschaftlichen Modellversuch auf der Grundlage des geltenden Betäubungsmittelrechtes (§ 3 BtMG) beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zu beantragen. In § 3 BtMG heißt es: „Eine Erlaubnis für die in Anlage I bezeichneten Betäubungsmittel kann das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte nur ausnahmsweise zu wissenschaftlichen oder anderen im öffentlichen Interesse liegenden Zwecken erteilen“. Es ist also eine Ausnahmegenehmigung nötig, um ein Modellprojekt durchführen zu können.

Zielsetzung und Begründung
Das wissenschaftliche Gesamtvorhaben soll überprüfen, inwieweit die generalpräventiven Effekte, die mit dem umfassenden Verbot von Cannabis auf den Konsum von illegalen Drogen angestrebt werden, nicht genauso gut oder besser durch eine kontrollierte Abgabe von Cannabis und eine dadurch zu erwartende Trennung der Drogenmärkte erreicht werden können.
Die wesentlichen Argumente für das Modellprojekt ergeben sich aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts sowie aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisstand. Es gibt in der wissenschaftlichen Literatur keine empirischen Angaben darüber, wie Jugendliche, die nach dem ersten Probieren – dies geschieht normalerweise im privaten Rahmen – weiter Cannabisprodukte konsumieren, regelmäßig an ihren „Stoff“ kommen. Anzunehmen ist jedoch, dass bei fortgesetztem Konsum die Bedeutung von Bezugsquellen außerhalb des privaten Umfelds zunimmt und damit Kontakte zum illegalen Markt wichtiger werden. Die prohibitive Politik scheint also die Cannabis-Konsumenten in einen illegalen Bereich zu drängen, in dem der Umstieg von Cannabis auf hoch riskante Drogen wie Heroin und Kokain wahrscheinlicher wird. Dadurch verkehrt sich das Ziel des Cannabis-Verbotes in sein Gegenteil: Statt vor Drogenabhängigkeit zu schützen, wird diese durch die Prohibition eher provoziert, da das Abhängigkeitspotential von Heroin gegenüber Cannabis unvergleichlich höher ist. Dies ist die zentrale Begründung für das Cannabisprojekt.

Laufzeit und Versuchsgebiet
Der Modellversuch soll sich über fünf Jahre erstrecken. In den ersten beiden Jahren soll der Modellversuch in drei Regionen von Schleswig-Holstein begonnen (Phase I) und dann auf das ganze Bundesland ausgedehnt werden (Phase II). Diese Versuchsanordnung erlaubt es, die Angemessenheit und Akzeptanz der Modellregelungen in einem kleineren Gebiet zu testen, bevor sie landesweit erprobt werden. Dadurch sind bei Bedarf noch Modifikationen möglich.

Apotheken als Abgabestellen
Der Antrag des Landes Schleswig-Holstein an das Bundesinstitut sieht vor, dass einzelnen Apothekern die Erlaubnis erteilt wird, Cannabisprodukte zu erwerben, zu besitzen und zu veräußern. Apotheken sind als Abgabestellen geeignet, weil sie mit der Abgabe von Betäubungsmitteln vertraut sind und einer strengen Kontrolle unterliegen. Zudem haben sie Erfahrung mit präventiven Aufgaben im Drogenbereich (z.B. Ausgabe von Einwegspritzen). Schließlich sind sie „szenefern“ und liegen außerhalb staatlicher Einrichtungen. Das eine ist wegen der Trennung der Konsumentengruppen wichtig, das andere dürfte die Akzeptanz bei den Teilnehmern steigern.

Teilnahmebedingungen
Alle in den ausgewählten Gebieten gemeldeten Personen ab 16 Jahre dürfen teilnehmen. Diese Altersgrenze ist aus mehreren Gründen sinnvoll: Das typische Einstiegsalter in den Cannabiskonsum liegt bei 16 bis 17 Jahren, das durchschnittliche Einstiegsalter in den Heroinkonsum bei 18 bis 19 Jahren. Befragungen von Schulklassen zeigen, dass es ab der 9./10. Klasse zu einem starken Anstieg des Anteils von Cannabiskonsumenten kommt. Es ist daher sinnvoll, gerade diese Altersgruppe mit einzubeziehen, um prüfen zu können, inwieweit sie dadurch bei der Drogenbeschaffung aus illegalen Kontexten herausgehalten werden können, und in welchem Maße präventive Effekte im Sinne des Nicht-Umsteigens auf härtere Drogen eintreten.

Abgabemenge und -preis
Die Cannabisprodukte werden in Form von Marihuana und Haschisch verkauft. Bei der Abgabe können davon insgesamt maximal 5 g erworben werden. Für diese Menge originalverpackter Ware gilt ein Legalitätsschutz für die Versuchsteilnehmer, der sie vor polizeilichen Beschlagnahmungen und Ermittlungen schützt. Jede Verpackungseinheit enthält 0,5 g. Der Mindestgehalt THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) ist jeweils aufgedruckt.
Der Preis der Cannabisprodukte orientiert sich am Schwarzmarktpreis und soll immer über diesem liegen. Dadurch soll vermieden werden, dass durch den Erwerb von Haschisch oder Marihuana in den Apotheken und deren Weiterverkauf Gewinne erzielt werden können. Daher ist dieses Modell für Dealer ebenso unattraktiv wie für „Drogentouristen“ oder Heroinkonsumenten.

Das schleswig-holsteinische Cannabismodell mag bürokratisch und überreglementiert erscheinen, eben „typisch deutsch“ sein. Die Apotheke als Abgabestelle mögen manche als Diskriminierung empfinden, die Teilnehmerkarte als Kontrolle. Diese Kritik ist verständlich, aber sie hilft nicht weiter, denn es geht nicht um das optimale Modell aus Sicht der Cannabis-User. Pragmatische und realisierbare Konzepte sind nötig. Drogenreformpolitik war und ist in der Bundesrepublik eine mühsame Politik der kleinen Schritte - dieser Erkenntnis trägt das Modell Rechnung.

Der Antrag des Landes Schleswig-Holstein wurde 1997 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte mit der Begründung abgelehnt, dass der geplante Modellversuch nicht die Bedingungen analog einer klinischen Arzneimittelprüfung erfülle. Bei dem beantragten Modellprojekt war dies weder beabsichtigt noch kann ein solcher Modellversuch unter solchen Kriterien durchgeführt werden. Es handelt sich nicht um einen medizinischen Versuch, sondern um eine sozialwissenschaftliche Studie, die epidemiologische Effekte einer generalpräventiven Intervention sowie Verhaltens- und Einstellungsveränderungen untersucht. Dies schließt die Anwendbarkeit des § 3 BtMG nicht aus. Das Projekt ist als ein ergebnisoffener, reversibler und kontrollierter Versuch konzipiert, der zum Ausgangspunkt nimmt, was sowieso passiert: dass ein erheblicher Teil der jungen Menschen trotz Verbots Cannabisprodukte konsumiert.

Ist Cannabis in Apotheken also ein Modell für die Zukunft? Der Kieler Vorschlag ist sicherlich nicht das „Maß aller Dinge“, keine endgültige Konzeption für einen neuen Umgang mit Cannabis in der Gesellschaft. Er beinhaltet aber das am weitesten entwickelte Abgabemodell in der Bundesrepublik und stellt einen notwendigen Schritt zur Versachlichung der drogenpolitischen Diskussion auf der Grundlage abgesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse dar.


Literatur:

Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (2000): Jahresbericht 2000 über den Stand der Drogenproblematik in der Europäischen Union, Lissabon.

Kalke, Jens/Verthein, Uwe/Raschke, Peter (1998): 10 Jahre Substitutionstherapie in der Bundesrepublik Deutschland – Politische Entwicklung und Evaluationsergebnisse, in: Wiener Zeitschrift für Suchtforschung, Jg. 21, Heft 4/1998, S. 47-54.

Kalke, Jens/Raschke, Peter (1996): Blockierte Drogenpolitik. Von Reforminitiativen der Länder und ihrer Behinderung durch die Bundesregierung, in: ‘Akzept e.V.’ (Hrsg.) (1996): Wider besseres Wissen. Die Scheinheiligkeit der Drogenpolitik, Bremen, S. 168-180.

Kalke, Jens/Giebel, Kerstin (1994): Neue Wege in der Drogenpolitik: Das Hamburger Methadonprogramm, in: Gegenwartskunde, Heft 4/1994, S. 457-466.

Kleiber D./Kovar K.-A. (1998): Auswirkungen des Cannabiskonsums. Eine Expertise zu pharmakologischen und psychosozialen Konsequenzen, Stuttgart.

Kleiber D./Soellner R. (1998): Cannabiskonsum: Entwicklungstendenzen, Konsummuster und Risiken, Weinheim.

Köhler, Michael (1996): Verbot und Bestrafung des Cannabis-Umgangs nach internationalem Recht. Gutachten für das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Schleswig-Holstein, in: Neumeyer, Jürgen (Hrsg.) (1996): Cannabis, Gersthofen, S. 260-289.

Krausz, Michael/Degkwitz, Peter/Verthein, Uwe/Basdekis, Raphaela (2001): Die suchtmedizinische Bedeutung des Modellversuchs zur heroingestützten Behandlung Drogenabhängiger, in: Zerdick, Joachim (Hrsg.) (2001): Suchtmedizin im Dialog. 9. Suchtmedizinischer Kongress der DGS, Berlin, S. 55-69.

Kreutzfeldt, Nina/Schmidt, Verena (1997): Zwischen „bekiffte Idee“ und „Versuch macht klug“: Die Diskussion um den Modellversuch in Presse und Politik, in: Raschke, Peter/Kalke, Jens: Cannabis in Apotheken, Freiburg i. B., S. 115-133.

Raschke, Peter/Kalke, Jens: Cannabis in Apotheken. Kontrollierte Abgabe als Heroinprävention, Freiburg i. B.

Stöver, Heino (1999): Der Transfer von Harmreduction-Strategien in den Strafvollzug, in: Stöver, Heino (Hrsg.) (1999): Akzeptierende Drogenarbeit. Eine Zwischenbilanz, Freiburg i.B., S. 240-254.




Adresse der Autoren:
Prof. Dr. Peter Raschke
Dr. Jens Kalke
Institut für interdisziplinäre Sucht- und Drogenforschung
c/o Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Martinistraße 52
20246 Hamburg