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28.09.2000 Zeitung: Weltwoche  Bettina Recktor und Matthias Meili

Die verbotene Medizin

Cannabis ist ein äusserst hilfreiches Medikament. Das natürliche «Gras» wirkt gar noch besser als die künstliche THC-Pille. Zeit für die Zulassung.

Bettina Recktor und Matthias Meili

Für Thomas Cerny, Onkologe am Kantonsspital St.Gallen, grenzt es an eine ärztliche Pflicht, Cannabis als Medizin genauer zu untersuchen. «Jeder Arzt hat einmal den Eid des Hippokrates geleistet. Und wenn ein Heilmittel etwas zum Wohl des Kranken tun kann, was andere Medikamente nicht schaffen, dann müssen wir es auch anwenden.» Cannabis hat gute Chancen, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es hat bei gewissen Anwendungen kaum Nebenwirkungen, kann auch bei sehr schwer Kranken eingesetzt werden und ist erst noch viel billiger als viele Pharmaprodukte, so Cerny. Der Chefarzt an der Klinik für Innere Medizin hat zehn Jahre Erfahrung mit Patienten, die Cannabis von sich aus einnehmen.

Jetzt leitet Cerny zusammen mit Florian Strasser vom Inselspital Bern und Martin Schnelle vom Europäischen Institut für onkologische und immunologische Forschung in Berlin eine Studie, die in der Cannabis-Medizin hohe Wellen schlagen könnte. Bisher konzentrierte sich die klinische Forschung nämlich auf den Hauptwirkstoff von Cannabis, das Tetrahydrocannabinol oder THC. Dieses wird in den Vereinigten Staaten seit 1986 künstlich hergestellt. Nur, der Stoff ist sehr teuer. Und zudem gibt es viele Hinweise, dass das natürliche Produkt dem künstlichen Einzelwirkstoff überlegen ist. Cerny und seine Mitarbeiter wollen es genauer wissen. Bei über vierhundert schwerst krebskranken Patienten soll die appetitfördernde Wirkung von Cannabis-Extrakt und isoliertem THC verglichen werden.

Krebskranke in fortgeschrittenen Stadien leiden an dauernder Appetitlosigkeit und magern oft dramatisch ab. Den Leidenden kann die appetitfördernde Wirkung von Marihuana (mit u.a. dem Wirkstoff THC) helfen. Je 177 Patienten erhalten den Cannabis-Extrakt oder Delta-9-THC (Dronabinol, der synthetische Wirkstoff) in Form von Kapseln, und 91 Patienten werden in die Placebogruppe eingeteilt. Verläuft die Studie erfolgreich, wäre dem Einsatz von Cannabis als Heilmittel nur mehr wenig entgegenzusetzen.

Stoff, aus dem die Glückseligkeit ist

Derzeit kann Cannabis als verbotener Stoff in der Schweiz nur mit einer Sonderbewilligung des Bundesamtes für Gesundheit zu Forschungszwecken verabreicht werden, also für klinische Studien wie die von Thomas Cerny. Anders beim künstlichen THC: Laut Art. 8 Abs. 5 des Betäubungsmittelgesetzes ist eine medizinische Anwendung - unter strengen Auflagen zwar - erlaubt, der Einsatz in der Forschung sowieso. Der Berliner Studienleiter Martin Schnelle vermutet, dass die - international gängige - Bevorzugung des synthetischen THC politisch motiviert war: «Man wollte mit der verfemten Pflanze nicht in Berührung kommen.»

In der Schweiz ist Cannabis seit der Einführung des Betäubungsmittelgesetzes im Jahre 1951 eine verbotene Medizin. Zwar steckt das Gesetz derzeit in der Revision, und viele politische Parteien und interessierte Kreise fordern eine Legalisierung von Cannabis. Doch noch gilt die fünfzig Jahre alte Version. Damals befand der Gesetzgeber, dass der medizinische Nutzen von Hanf höchstens marginal, eher aber gar nicht vorhanden sei, wie es im Cannabisbericht der eidgenössischen Expertenkommission für Drogenfragen von 1999 heisst. Wie irrig! Heute ist das feingliedrige Kraut ein sehr gut erforschtes Heilmittel. Nachweislich hilft Cannabis bei Krebs, wo es Nebenwirkungen der Chemotherapie wie Übelkeit und Erbrechen lindert, bei multipler Sklerose, wo es die Spastik (krampfhafte Muskelverspannungen) und das Zittern abschwächt, bei Aids, wo Cannabis Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust entgegenwirkt. Zudem gibt es interessante Fallberichte über eine positive Wirkung beim Glaukom (Grüner Star), einer Krankheit, die den Augeninnendruck erhöht und das Sehvermögen schädigen kann, bei Epilepsie, wo Marihuana im Zusammenwirken mit anderen Medikamenten die Anfälle erleichtern und mindern kann, und bei neuropathischen (durch Nervenschädigung bedingten) Schmerzen, die mit Opiaten nur unbefriedigend behandelt werden können. Im Übrigen wurde Cannabis bereits in historischen Zeiten gegen Migräne und Menstruationsbeschwerden eingesetzt.

Auch über den Wirkmechanismus ist schon einiges bekannt. Ende der achtziger Jahre entdeckte man im menschlichen Körper spezifische Andockstellen (Rezeptoren) für Cannabis-Wirkstoffe. Wenig später fanden Forscher die dazugehörigen körpereigenen Stoffe mit cannabisartiger Wirkung: die Anandamide, benannt nach dem Sanskrit-Wort Ananda (Glückseligkeit). Diese Stoffe spielen eine Rolle bei der Bewegungskoordination, bei Gedächtnisfunktionen und beim Wahrnehmungsvorgang. Die Forscher vermuten, dass auch die Appetitstimulation über ähnliche Rezeptoren vermittelt wird.

Schlupflöcher im Gesetz

In Cernys Studie besteht Hoffnung, dass sich der natürliche Gesamtextrakt als verträglicher und eventuell wirksamer herausstellen wird als isoliertes THC. Studienleiter Martin Schnelle: «Andere Cannabis-Inhaltsstoffe, die Cannabinoide, unterstützen die Wirkung des THC und können zudem Nebenwirkungen von THC verringern.» Tatsächlich gibt es Untersuchungen, die belegen, dass Cannabidiol, das zweitwichtigste Cannabinoid, die Rauschwirkung von THC abdämpft und insofern für eine bessere Verträglichkeit von Cannabis sorgen könnte. Gründe genug, um den Gesamtpflanzenextrakt dem reinen THC zumindest gleichzustellen. Auch Berichte von Aids-Patienten aus den Vereinigten Staaten deuten in
dieselbe Richtung. Mit der Studie sollen die Vorteile von Cannabis erstmals genau er-fasst und gemessen werden. Nur so besteht eine Chance, dass «Gras» einmal in der Apotheke erhältlich und von den Krankenkassen bezahlt wird. Ein grosses Problem dabei ist die Erfassung der Wirkstoff-Konzentrationen. Im natürlichen Produkt schwanken die Mengen der verschiedenen Wirkstoffe wie in jeder anderen Pflanze auch. «Die Qualitätskontrolle ist etwa so schwierig wie beim Wein oder Kaffee», sagt Cerny.

Die Patienten in der Studie nehmen den Stoff in Kapseln ein. Dafür werden Blüten, Blätter und Stengel der Cannabispflanze zerkleinert, zerstampft, mit Alkohol extrahiert und der Extrakt in Weichgelatinekapseln gebracht. Jede Kapsel ist auf einen THC-Gehalt von 2,5 Milligramm standardisiert. Die Patienten erhalten zwei Stück pro Tag. Diese Dosis liegt laut Schnelle deutlich unter der Schwelle, bei der nachweisbare psychoaktive Wirkungen auf das Hirn erzeugt werden. Wer sich berauschen will, bräuchte doppelt oder dreimal so viel.

Jeden Tag zu vorgegebenen Zeiten markieren die Probanden ihren Appetit auf einer Skala, die von kein Appetit bis bestmöglicher Appetit reicht. Ferner werden auch die übelkeitshemmende und stimmungsaufhellende Wirkung sowie der Effekt auf das Körpergewicht der einzelnen Präparate untersucht. Und das Kraut scheint zu helfen. Viele Patienten haben laut Martin Schnelle wieder mehr Appetit, die Übelkeit lässt nach, und die durch die Grunderkrankung bedingten depressiven Verstimmungen werden gemildert: «Es ist für diese Patienten entscheidend, den Teufelskreis von Krankheitsfortschritt, daraus resultierender Verschlechterung der Lebensqualität und wiederum die Krankheit begünstigende Depressionen zu durchbrechen. Für manche Patienten sind ständige Appetitlosigkeit, Übelkeit und Erbrechen sogar gravierendere Beschwerden als Schmerzen. Eine andauernde Qual, die oft den seelisch-geistigen Widerstand gegen die Erkrankung schwächt.» «In Anbetracht der Resultate wäre mir sehr daran gelegen, dass Cannabis im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen verfügbar wäre», sagt Thomas Cerny. Laut Paul Dietschy, im Bundesamt für Gesundheit verantwortlich für die Sonderbewilligungen zum Umgang mit verbotenen Betäubungsmitteln, könnte Cannabis eines Tages durchaus als
Medikament zugelassen werden. «Schliesslich ist es das Ziel jeglicher klinischer Forschung, wirksamere Medikamente als bisher zu registrieren.» Allerdings wird das noch dauern, denn um in der Apotheke erhältlich zu sein, muss auch Cannabis die hohen Hürden des Zulassungsverfahrens bestehen. Wobei dafür das Gesetz möglicherweise nicht einmal eine Hürde wäre. Dietschy: «Verboten ist Cannabis nur, wenn es zur Anwendung als Betäubungsmittel kommt.» Und das ist weder in Cernys Studie noch bei vielen Krebskranken, die ausserhalb der laufenden Studien behandelt werden, der Fall.

Trotz dieser Schlupflöcher im Gesetz bleibt Cannabis vorläufig als illegale Droge gebrandmarkt. Das bereitet den zumeist älteren Patienten Mühe. Gezeichnet von einer schweren Krankheit wie Krebs, multiple Sklerose oder Aids, fiebern sie nach ein bisschen Erleichterung. Cannabis gibt sie ihnen. Nur: der Weg zum Stoff ist schwierig - vielfach erhalten die Patienten den wertvollen Tipp von ihren Kindern. Und dann müssen sie noch die innere Barriere, den Respekt vor der «Droge» überwinden. «Die Hemmschwelle ist zweifellos da», sagt Thomas Cerny. «Das ist für alle eine sehr unangenehme Situation.» Es wird Zeit für eine vollständige Enttabuisierung, zumindest im medizinischen Bereich.

Bettina Recktor ist Wissenschaftsjournalistin und arbeitet in Berlin