1 Ls 310 Js5518/02
AK 64/02
Amtsgericht Mannheim SG1
Im Namen des Volkes
UrteiI
Strafsache
gegen den am
geborenen, in
.. Mannheim,
..
wohnhaften,
Michael
. F
wegen Verd.d. Verstoßes gegen das
Betäubungsmittelgesetz.
Das Amtsgericht Mannheim -Schöffengericht -hat in der Sitzung vom
15.05.2003, an der teilgenommen haben",
Richter am Amtsgericht Bauer .., als
Vorsitzender
D
. B
..
E
.. B
.. als Schöffen
Staatsanwalt Schmelcher
als Vertreter der Staatsanwaltschaft
Rechtsanwalt Wenzel als Verteidiger
JHS Wunsch-Rettig als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
für Re c h t
erkannt:
Urteil in Strafsachen -Schöffengericht -
der Angeklagte
Michael
. F
. wird freigesprochen
Die Kosten des Verfahrens und die
notwendigen Auslagen des Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
GRÜNDE: I.
Dem Beschuldigten lag folgender Sachverhalt zur Last:
1. Er habe am 28.06.1999 gegen 05:00 Uhr in seiner Wohnung in der
..-
straße
in Mannheim-
. insgesamt 128, 65 Gramm Marihuana, 73,6 Gramm Haschisch
'und 23 Joints besessen.
2. Weiter habe er am 17.02.2002 gegen 01 :30 Uhr
in der
. Straße 96-126
in Mannheim vier Joints mit sich geführt, die mit
einem Tabak-Marihuana-
Gemisch gefüllt gewesen seien. Bei der anschließenden
Durchsuchung der Wohnung des Angeklagten in der
.straße
in Mannheim seien
sieben weitere Joints mit einem Tabak-Marihuana-Gemisch, vierzehn Hanfstauden
mit einer Höhe von jeweils 1,50 Meter, welche der Angeklagte
. in seinem
Wohnzimmer aufgezogen habe, zwei Tütchen mit 30,8 Gramm Marihuana und eine
Schüssel mit 28,9 Gramm Marihuana sichergestellt worden. Nach Aberntung der
Cannabis-Pflanzen und Trocknung des Pflanzenmaterials habe sich eine Gesamtmenge
von Marihuana und Marihuanagemisch von 381,99 Gramm mit insgesamt 12,76 Gramm
THC ergeben.
In beiden Fällen sei der Angeklagte, wie er sich bewusst gewesen sei, nicht
im Besitz einer ihn hierzu berechtigenden behördlichen Erlaubnis gewesen.
Hinsichtlich der Tat Ziffer 1) hatte die Staatsanwaltschaft Mannheim mit
Beschluss vom 21.01.2000 unter dem Aktenzeichen 23 Cs 304 Js 19482/99 AK 48/00
einen Strafbefehl erwirkt, obwohl weder Tatzeit noch Tatort in dem Strafbefehl
angegeben waren. Nach- dem der Angeklagte gegen diesen Strafbefehl rechtzeitig
Einspruch eingelegt hatte, wurde das Verfahren zu der Strafsache Ziffer 2)
hinzuverbunden. In der Hauptverhandlung wurden in entsprechender Anwendung des §
265 StPO die Mängel des Strafbefehls nachträglich behoben.
II.
Die
Beweisaufnahme hat das unter Ziff. I. dargestellte Tatgeschehen bestätigt. Der
Angeklagte hat den äußeren Sachverhalt umfassend eingeräumt. In allseitigem
Einverständnis wurde auf eine nochmalige Anhörung der an den jeweiligen Tattagen
eingeschrittenen Polizeibeamten verzichtet. Die weiteren Feststellungen beruhen
auf den überzeugenden Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. Meinck, Dr.
habil. Skopp und Dr. Mir.
III.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme
steht fest, dass der Angeklagte tatbestandlich im Sinn der §§ 1 Abs.1, 3 Abs.1
Nr.1, 29 Abs.1 Nr.3 BtMG (im Fall der Tat Ziffer 1 )) und § 29 Abs.3 Nr.3, 29 a
Abs.1 Nr.2 BtMG (im Fall der Tat Ziffer 2)) gehandelt hat. Er war jedoch
gerechtfertigt, § 34 StGB.
Bei der Prüfung des
Rechtfertigungsgrundes des Notstandes sind die Wertungen zu berücksichtigen, die
sich in den Bestimmungen des BtMG über die Verkehrsfähigkeit über
Betäubungsmitteln niedergeschlagen haben. Nur wenn die drohende Gefahr für ein ,
schutzbedürftiges Rechtsgut des Angeklagten so exorbitant und atypisch ist, dass
sie in die Abwägung der gesetzlichen Spezialregelung nicht eingegangen ist, kann
§ 34 StGB eingreifen, hierzu auch OLG Köln, 1. Strafsenat Az.: Ss 51/99 -23, in
einem Verfahren, in dem ein HIV-Patient zur Linderung seiner Beschwerden zu
Cannabis gegriffen hatte.
Auch im Fall des Angeklagten F
.. liegt eine
gegenwärtige, nicht anders abwendbare Gefahr für Leib und Leben vor, bei deren
Bekämpfung Mittel angewendet wurden, die nach dem BtMG verboten sind. Deren
Einsatz aber im insoweit überwiegenden Individualinteresse gerechtfertigt war.
Er leidet sowohl an Multipler Sklerose als auch an einer Ataxie.
Das BtMG
hat die Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Bevölkerung zum Ziel und
hat zugleich den Missbrauch von Betäubungsmitteln sowie das Bestehen oder 1
Erhalten einer Betäubungsmittelabhängigkeit auszuschließen. Das bei dem
Angeklagten bestehende Krankheitsbild ist jedoch so schwerwiegend, dass F.
Individualinteressen bei der anstehenden Güterabwägung ein Übergewicht zukommt.
Er leidet an einer anfänglich schubförmig verlaufenden Multiple Sklerose, die
sich 1985 in Form von Sehstörungen manifestierte. Im Jahr 1986 traten dann
Taubheitsgefühle des rechten Beines, eine Blaseninkontinenz, eine Sprachstörung
sowie Doppelbilder auf. Damals wurde auch an Hand einer Kernspintomografie
sowie einer Liquorzellenuntersuchung die Diagnose einer Multiplen Sklerose
gestellt. Der Angeklagte wurde daraufhin mit Cortison-lnfusionen behandelt und
konnte nach zwei Wochen entlassen werden. Bereits vierzehn Tage danach kam es zu
einer erneuten Verschlechterung der Symptomatik, jetzt mit Gesichtslähmung
rechts und Gehunfähigkeit, so dass F
vorübergehend pflegebedürftig
wurde.
Nach erneuter Einweisung wurde er vier Monate stationär behandelt,
wobei im Anschluss für ca. sechs Wochen eine Heilbehandlung in der
Reichenbad-Klinik in Weilbronn durchgeführt wurde. Die Restsymptomatik mit
Geh-, Sprech- und Sehstörungen bildete sich über ca. ein Jahr langsam zurück.
F
.. wurde zur Prophylaxe weiterer Schübe auf das Medikament Azathioprin
eingestellt, wobei er diese langfristig angelegte Behandlung jedoch bereits nach
zwei bis drei Monaten abbrach und seither nur noch Vitamine, Mineralien und seit
1987 Cannabis einnimmt. Eigenen Angaben zufolge erlitt der Angeklagte ca. zwei
Schübe pro Jahr, die jeweils ambulant mit Cortison-Infusionen behandelt wurden.
Weiter erhielt er regelmäßig krankengymnastische sowie logopädische
Behandlungen. In de Jahren 1990 und 1993 wurde er jeweils über vier bis sechs
Wochen in der Rehaklinik Karlsbad-Langensteinbach behandelt. Der letzte Schub
ist vermutlich im Jahr 1995 erfolgt und dann auch mit Cortison behandelt worden.
Die Symptomatik während aller Schübe sei jeweils ähnlich gewesen, wobei im
Vordergrund Taubheitsgefühl, Schwindel, Zuckungen und Dysarthrie standen. Alle
diese Befunde waren unter hochdosierten Cortisongaben rückläufig. Seit 1995 ist
es zu einer ..Milderung des Krankheitsverlaufes gekommen. Seither sind keine
Krankheitsschübe mehr aufgetreten. Seit jenem Zeitpunkt ist der
Krankheitsverlauf schleichend.
Von 1995 bis heute befindet sich der
Angeklagte ca. einmal pro Jahr im Krankenhaus für Multiple Sklerose und andere
Nervenstoffwechselleiden, Klinik Dr. Ewers, Sundern. Nebenbefundlich wurde ein
Asthma bronchiale festgestellt. Der letzte Asthmaanfall liegt jedoch ca. 15
Jahre zurück. Weiter besteht eine Allergie gegen Haus- und Milbenstaub. Aktuell
leidet der Angeklagte von seiten seiner Multiplen Sklerose an einer
mittelschweren Residualsymptomatik wobei insbesondere Koordinationsstörungen im
Sinne eine Ataxie auffallen, die im Wesentlichen die Fein-, die Grobmotorik
sowie den freien Gang, den Stand und die Sprache beeinträchtigen. Subjektiv
leidet der Angeklagte unter generalisiertem Muselschmerzsyndrom, einer
depressiven Verstimmung sowie einer einschießende Spastik. Für diese sekundär-
progrediente Verlaufsform der Multiple Sklerose des Angeklagten, d.h. eine
Erkrankung, die nach zunächst schubförmigem Verlauf dann mit schleichender
Verschlechterung der klinischen Symptomatik fortschreitet, können nach dem
derzeitigen Stand der Forschung Interferone verordnet werden. Wegen der damit
verbundenen Nebenwirkungen hat der Angeklagte darauf bislang verzichtet- Auch im
übrigen gibt es eine ganze Reihe von Therapieempfehlungen zur Behandlung seiner
Sekundärleiden. Bei Patienten mit gesicherter sekundär-progredienter Multiple
Sklerose mit nur geringer Behinderungszunahme in den letzten Jahren bzw.
fehlenden Schüben oder fehlender Krankheitsaktivität können nach den Leitlinien
der deutschen Gesellschaft für Neurologie keine wissenschaftlich gesicherten
Therapieempfehlungen -, gegeben werden.
Der Angeklagte leidet darüber hinaus
objektiv, d.h. medizinisch verifiziert, an einer Ataxie mit Störung der Grob-
und der Feinmotorik, des freien Gangs und des Standes sowie der Sprache. In der
Hauptverhandlung zeigte sich unterhalb des rechten Jochbeins eine ca. vier
Zentimeter lange, frische, tiefe Wunde, die von einem aktuell erlittenen Sturz
herrührt. Diese Ataxie des Angeklagten kann nach dem derzeitigen Stand der
Wissenschaft nicht behandelt werden. Es gibt weder eine kausale noch eine
symptomatische medikamentöse Therapieempfehlung für die Behandlung von Ataxien
(Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. www.dqn.orq.). Lediglich
zur Vermeidung von Sekundärfolgen und zur Verbesserung funktioneller
Einschränkungen kann Krankengymnastik auf neurophysiologischer Grundlage zur
Basisversorgung verordnet werden. Diese Maßnahmen wurden bei dem Angeklagten in
ausreichendem Maß u.a. während der regelmäßigen Klinikaufenthalte in der
MS-Klinik Dr. Ewers durchgeführt. Spätestens dort hat der Angeklagte auch über
Mitpatienten erfahren, dass es Fallbeispiele gibt, bei denen Cannabis bzw. seine
Derivate bei Symptomen der Spastik und der Ataxie hilfreich sein können. Von
der ärztlichen Leitung in Person des vorliegend als sachverständigen gehörten
Dr. Mir wird den Patienten nicht zu Konsum von illegalen Cannabisprodukten
geraten. Den Patienten wird aber auch nicht vorenthalten, dass es für die
Behandlung der Ataxie, d.h. dieser Störung der Grob- und Feinmotorik, der
Gehfähigkeit und des Sprach- und Sehvermögens keine zugelassenen
Therapiealternativen gibt. Wie oben dargestellt kann allenfalls mit
Krankengymnastik versucht werden die noch vorhandene Motorik zu stärken um
dadurch ihr Verlöschen hinauszuschieben.
Ohne dass es dafür ausreichende
Untersuchungen an genügt großen Patientenzahlen gäbe, wird von einer Vielzahl
von Neurologen in dieser Situation das in den USA zur Behandlung von
AIDS-Patienten entwickelte und synthetisch hergestellte Tetracannabinol Marinol
verordnet, das in Deutschland von der Bock-Apotheke in Frankfurt/M. unter der
Bezeichnung "Dronabinol" hergestellt und vertrieben wird. Die Verordnung erfolgt
ausschließlich auf Privatrezept. Am 03.05.2002 kosteten 20 ml dieser
zweiprozentigen Lösung 545,87 Euro. In Ermangelung anderer
Behandlungsalternativen wurde dem Angeklagten von Dr. Mir in der Vergangenheit
einmal dieses Dronabinol verordnet. Gegenüber seinen Δrzten bezeichnete F
..
dessen Wirkung als "durchschlagend". Da sich seine Krankenkasse, die AOK
Mannheim, jedoch weigert, die Kosten für dieses Präparat zu übernehmen, weil
dessen Wirksamkeit bislang noch nicht in Großversuchen unter Beweis gestellt
worden ist und der Gemeinschaft der Versicherten mithin eine Kostenübernahme
nicht zuzumuten sei. hat der Angeklagte gegen die versagende Entscheidung
Widerspruch und danach Klage zum Sozialgericht Mannheim eingereicht. Derzeit ist
das Verfahren unter Az.: L 4 KR 3828/01 vor dem Landessozialgericht Baden-
Württemberg anhängig. Der zwischenzeitlich berentete und im Übrigen
vermögenslose Angeklagte ist wirtschaftlich nicht in der Lage, sich Dronabinol
in ausreichender Menge über Privatverordnung seiner Δrzte zu beschaffen.
Außerdem hat er gegen das Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte vor dem Verwaltungsgericht Köln (24 K 1023/01) Klage auf
Erteilung einer Ausnahmege-nehmigung im Sinne des § 3 Abs.1 Nr.1 BtMG erhoben.
Hierüber ist bislang noch nicht entschieden
Zweifellos ist bei dem
Angeklagten wegen seines regelmäßigen Konsums seit dem Jahr 1987 von einer
psychischen Cannabisabhängigkeit auszugehen. Andererseits stehen wirksame
Therapiemöglichkeiten zur Bekämpfung seiner Ataxie nicht zur Verfügung.
Auch
wenn die Symptome seiner Spastik, Depressionen und Schmerzen bislang noch nicht
abschließend abgeklärt sind und in diesem Bereich noch reichlich therapeutische
Optionen vorliegen, so ist nach den überzeugenden Ausführungen des weiteren
Sachverständigen, Prof. Dr." Meinck, .Neurologische Universitätsklinik
Heidelberg, aus medizinlscher Sicht gegen einen Individuellen Hellversuch zur
Behandlung der Ataxie mit Cannabisderivaten aus mehrfacher Sicht nichts
einzuwenden. Zum Einen gibt es für dieses Symptom keine anderen zugelassenen und
erwiesenermaßen wirksamen Behandlungsoptionen, weiter liegen nach
wissenschaftlichem Kenntnisstand Befunde vor, die die Wirksamkeit von Cannabis
auf die Ataxie in einzelnen Fällen belegen. Außerdem hat der Angeklagte in der
Vergangenheit offenbar positive Erfahrungen mit Cannabis gemacht. F
. hat in
der Vergangenheit alles Zumutbare unternommen um an das zugelassene Medikament
Dronabinol zu kommen. Das Präparat wurde ihm zwar verordnet. seine Krankenkasse
hat jedoch die Kostenübernahme berechtigterweise abgelehnt, weil es der
Versichertengemeinschaft nicht zugemutet werden kann, ein noch nicht für diesen
Anwendungsbereich freigegebenes Arzneimittel bezahlen zu müssen. Seine Klage vor
dem Verwaltungsgericht Köln ist schon mehrere Jahre anhängig. Zur Behandlung
seiner Ataxie stehen keine Medikamente zur Verfügung. Die durch die Ataxie
hervorgerufene Einschränkung sowohl der Grob- als auch der Feinmotorik belastet
den Angeklagten zu tiefst. Von den Folgen eines Sturzes hat sich das Gericht,
wie oben erwähnt, selbst eindrucksvoll überzeugen können. Bedenkt man
demgegenüber, dass es dem Angeklagten durch den Konsum der "weichen" Droge
Cannabis ermöglicht wird, ein annähernd erträgliches Dasein zu führen, so tritt
der Verstoß, gegen das BtMG vor seinen Individualinteressen zurück. Immerhin hat
der Angeklagte sein Cannabis selbst gezogen und nicht etwa zu dessen Erwerb
eigens die Drogenszene aufgesucht. Dadurch wurden auch nicht etwa andere
Drogenkonsumenten in ihrem Tun bestärkt. Es wurden keine Dealer bereichert. Auch
sind keinerlei Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass er Dritte mit Drogen
versorgt haben könnte. Den Umstand, dass er eine größere Menge in seinem Besitz
hatte, hat F
unwiderlegbar auf den unterschiedlichen Reifegrad der Stauden
zurückgeführt.
Bei dieser Güterabwägung hat das Gericht auch berücksichtigt,
dass ein Freispruch des an MS leidenden Angeklagten eine besondere Außenwirkung
entfalten mag. Im konkreten Fall des Angeklagten F....... wog jedoch die
individuelle Notlage so schwer, dass er, weil bei der Tatbestandsverwirklichung
gerechtfertigt, aus rechtlichen Gründen frei zu sprechen war.
IV.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 467 StPO
Bauer
Richter am Amtsgericht
Ausgefertigt:
der Urkundsbeamte I der
Geschäftsstelle
des Amtsgerichts
Wunsch-Rettig
Justizhauptsekretärin